Donnerstag, 14. Mai 2009
Die Lips Tulian SAGA
„Die Lips Tullian SAGA“

Kennst du lieber Leser eigentlich den Tännichtgrund im Tharandter Wald? Und hast du vom Räuberhauptmann Lips Tullian gehört? Nein? Also, dann hast du bisher etwas verpasst! Der Tännichtgrund liegt in Sachsen, am südlichen Rand des Tharandter Waldes, zwi-schen Colmnitz und Naundorf. Er wird von steilen, bewaldeten Hängen begrenzt, vom mäandernden Colmnitzbach durchflossen, dessen Wasser der Bobritsch und mit ihr der Freiberger Mulde zu-eilen.
Nachdem im Jahr 1976 die Kleinbahn, die vom Bahnhof Klingen-berg kommend, über Naundorf, Falkenberg, Niederschöna und O-berschar, bis nach Mohorn ratterte, dampfte und fauchte, eingestellt wurde, herrscht im Tännichtgrund wieder Einsamkeit und Stille. Heute trifft man auf dem am Nordhang verlaufenden alten Bahn-damm, der im Sommer als Radweg, im Winter, wenn die Schnee-höhe es zulässt, als Loipe dient hin und wieder ein paar Natur-freunde - oder ein Liebespaar.
Der Geografische Mittelpunkt Sachsens vor der einstigen Diebes-kammer gelegen, angezeigt durch eine granitene Stehle, lockt den einen oder anderen hinunter zum Talgrund. Dabei erschließt sich von dort wo ein schmaler Weg dem Lauf des Tales folgt erst der eigentliche Reiz des wunderschönen Tales.
Am steilen felsigen Hang wachsen Eichen, Buchen und Birken, ne-ben Haselnuss-, Himbeer- und Brombeersträuchern. Auf den Wie-sen findet derjenige der zu sehen versteht, Süßgräser, Binsen, den Bärenklau, das Springkraut und vieles mehr. Meißen zirpen, der Häher warnt, hoch oben kreist der Bussard und sucht mit seinem Teleblick nach Beute. Wenn man Glück hat begegnet man der Rin-gelnatter und der schillernden Eidechse. Insekten wimmeln, Libel-len schwirren, Bienen fliegen emsig von Blüte zu Blüte.
Anfangs des 18. Jahrhunderts haben Räuber diese Gegend unsicher gemacht. Erst war es Karrasek, der hier mit Komplizen sein Unwe-sen trieb. Später führte Lips Tullian die Schwarze Bande an. Seine wilde Horte, die vor allem Kirchen und reiche Privathäuser aus-raubte, soll ihr Versteck hier im Tännichtgrund gehabt haben.
Woher ich das weiß? Da gibt es ein paar Bücher: „Lips Tullian und seine Raubgenossen“ und „Sachsens böse Kerle“. Sie sind span-nend geschrieben. Doch wie viel davon Dichtung und wie viel Wahrheit ist, das bleibt im Dunkeln. Mehr sagen da schon zwei Bücher aus, die kurz nach der Hinrichtung Lips Tullians an Hand der Gerichtsakten geschrieben wurden: Im Jahr 1715 „Des so ge-nannten Lips Tullians ausführliche Bekänntniß, als auch all seiner bösen Consorten Diebes- und Mord-Geschichten“ und 1716 „Des bekannten Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullians und seiner Complicen Leben und Übeltaten.“
Während meiner Kindheit lebte ich in Colmnitz, hörte von dem Räuber und bin zusammen mit meinen Freunden oft in den Tän-nichtgrund gelaufen. Immer wieder haben wir nach der Höhle ge-sucht, in der sich die Diebeskammer befunden haben soll. Wir glaubten fest daran, dass sich irgendwo Spuren finden lassen müss-ten. Doch all unsere Suchaktionen verliefen ergebnislos.
Und nun fragst du, warum ich das erzähle? Ein merkwürdiges Er-lebnis veranlasst mich dazu. Winke nicht ab, lass mich berichten und bilde dir selbst dein Urteil. Vielleicht regt es auch dich dazu an, einmal diesen geheimnisvollen Ort zu besuchen. Mich hat diese Geschichte nie mehr losgelassen.
Also: An einem 8. März, dem Tag, an dem im Jahre 1815 Lips Tul-lian in Alt-Dresden „Auf dem Sand“, dem Richtplatz vor dem Schwarzen Tor der Neustadt, zusammen mit noch vier seiner Kum-panen enthauptet wurde, sitze ich am offenen Fenster. Das Wetter ist bereits frühlingshaft. Wieder einmal lese ich in meinen Notizen, die ich über das Leben des Lips Tullian zusammengetragen habe. Vieles ist unklar, wenig exakt belegt. Man müsste ihn selbst befra-gen können!
Eine Idee drängt sich mir auf: Ich könnte doch diesen Tag zum An-lass nehmen, die Nacht im Tännichtgrund zu verbringen, dort wo das Versteck der Schwarzen Garde gelegen haben soll. Könnte die Atmosphäre zu erleben die nachts an diesem unheimlichen Ort herrscht? Vielleicht geschieht ja ein Wunder...
Du meinst das wäre riskant? Unsinn! Die Räuberbande gibt es nicht mehr und wer sonst sollte sich nachts diesem unheimlichen Ort nähern. Ein innerer Zwang, vielleicht ist es auch nur Abenteu-erlust, bringt mich dazu dieser Idee zu folgen. Schnell sind die nö-tigen Sachen gepackt und am Nachmittag besteige ich den Zug der mich nach Klingenberg bringen soll. Diesmal wandere ich über die alte Salzstraße, die vor Jahren als Rennstrecke gedient hat, bis ein tödlicher Unfall dem ein Ende setzte. Nach fast einer Stunde habe ich mein Ziel erreicht. Unten im Tal, am Fuß des Felsens, in dem ein dreieckiges Tor angedeutet ist, werde ich übernachten. Doch noch ist es hell und da ich nicht möchte, dass irgendwer mein Vor-haben beobachtet, verberge ich den Rucksack im Gebüsch, nutze die Zeit für einige Fotos.
Die Zeit vergeht. Es wird Abend. Bereits liegt Dämmerung über dem Tal. Die Vögel schweigen. Dunkle Schatten kriechen aus dem Wald. Bald senkt sich die Nacht wie ein schwarzes Tuch in das Tal herab. Ich rolle die Isoliermatte ganz nahe der Felswand aus, lege den Schlafsack darauf, krieche hinein, strecke mich, verharre...
Lieber Leser, hast du schon einmal ganz allein an einen solchen Ort übernachtet? Ich sage dir, da klopft das Herz, die Brust wird eng. Du reißt die Augen auf, auch wenn du schon lange nichts mehr er-kennen kannst. Obwohl ich nicht an Geister und Gespenster glaube, horche ich angestrengt auf jedes Geräusch. Es raschelt und knackt im Unterholz. Wer mag da entlang schleichen? Der Abendwind rauscht in den Wipfeln. Ein Kauz ruft schauerlich. Der Schrei eines Tieres gellt durch die Nacht. Wenn wenigstens die Sterne leuchten würden, doch am Abend haben sich, vom Westen her kommend, Wolken genähert, haben den Himmel verhangen. Nachdem Mitter-nacht bereits vorüber ist, nichts geschieht, lässt die nervliche An-spannung nach; schließlich ich schlafe ein...
Als mich die Morgensonne und das Gezwitscher der Vögel weckt bin ich ganz benommen. In dieser Nacht muss etwas geschehen sein, von dem ich nicht weiß ob es wirklich geschehen ist, oder vielleicht nur ein Alptraum war.
Ich habe den abgeschlagenen Kopf Lips Tullians gesehen. Spukt der hier noch?
Du musst mich nicht darauf hinweisen, dass ich eben noch behaup-tet habe es gäbe weder an Geister noch Gespenster. Aber an so ei-nem Ort, in so einer Nacht, verstehst du? Es war unheimlich!
Wenn es dich interessiert, dann lese weiter. Ich werde erzählen und du kannst dir deine eigenen Gedanken darüber machen:
Es fing damit an, dass plötzlich eine Stelle der Wand über mir zu leuchten begann. Wenig später quoll dort schwefelgelber Nebel heraus, der sich bald blutrot färbte. In dieser wirbelnden Wolke er-schien der abgeschlagene, blutbeschmierte Kopf des Räuberhaupt-manns Lips Tullian. Seine glasigen Augen blickten starr auf mich herab. Mir stockt der Atem. Ich wollte schreien, doch kein Ton kam über meine Lippen. Dann sank sich der rote Nebel auf mich herab, bis der Kopf unmittelbar über mir zu schweben schien. Seine verzerrten Lippen waren wie im Schrei erstarrt. Sie bewegten sich nicht; doch tief in mir erklang das dumpfe Echo einer Stimme:
„Endlich wagt es einer, die Nacht, die auf das Datum meiner Hin-richtung folgt, hier zu verbringen. Jahrhunderte musste ich darauf warten. Solange die Menschen mich verachten, in mir nur den Räuber und Mörder sehen, solange werde ich keine Ruhe finden.“
Bist du ein Geist? Obwohl ich diese Worte nur denke, sie nicht ausspreche, antwortete die Stimme in mir:
„Kein Geist! Ich bin Lips Tullian - muss bis heute in der siebenden Dimension verharren.“
Siebente Dimension? So etwas gibt es doch gar nicht - genau so wenig wie Geister!
Der Kopf pendelte hin und her...
„Ach, was wisst ihr schon davon, ihr heutigen Menschen? Ihr glaubt nicht dass es so etwas gibt, weil ihr es mit euren Sinnen und Geräten nicht erfassen könnt. Aber, ihr glaubt fest an Götter die ihr nie gesehen habt, für deren Existenz es keinerlei Beweise gibt.“
Was willst du von mir?
„Du kannst mir helfen und genau das erwarte ich von dir!“,antwortet die Stimme fordernd.
Was müsste ich tun?
„Mich fragen. Mir zuhören! Ich werde dir von meinem Leben er-zählen. Woher ich kam. Wie es damals war auf der Welt, warum ich zum Räuber werden musste. Und du sollst es dir merken, es auf-schreiben, das viele es lesen können. Sie werden dann ein anderes Bild von mir bekommen.“
Dann könntest du die siebente Dimension verlassen?
„Ja! Ich fände endlich meine Ruhe.“
Das ist eine einmalige Gelegenheit, mehr über diesen Räuber-hauptmann zu erfahren – aus erster Quelle! Sehen wir ihn bisher doch vor allem einen Verbrechers und Unholdes, überlegte ich.
Prompt kommt die Antwort:
„Genau darum geht es! Du wirst mich fragen und ich werde dir antworten, dir erklären, dass es die Lebensumstände waren, die mich zwangen zum Räuber zu werden und dass ich denen etwas genommen habe, die sich vorher an anderen bereichert hatten. Ist das getan, bin ich frei, kann mich in der Ewigkeit verlieren.“
Rasch entschließe ich mich diese Gelegenheit zu nutzen und stelle die erste Frage:
Wo wurdest du eigentlich geboren? Und wie heißt du wirklich? Doch nicht Lips Tullian, wie du dich heute nennst.
„Geboren wurde ich – wahrscheinlich – im Jahr 1672. So genau weiß ich das aber nicht. Getauft bin ich auf den Namen Elias E-rasmus Schönknecht. Im Straßburger Kirchenregister würdest den Eintrag finden; wenn es noch existierte. Meine Erinnerungen be-ginnen im fünften oder sechsten Lebensjahr. Wir lebten in einem Haus in der Nähe von Straßburg, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich. Den Namen Lips Tullian habe ich erst viel später angenommen. Ich kannte eine Familie Tullian, deren Sohn Phillip oder kurz Lips gerufen wurde. Da er verschollen war, konnte ich unter seinen Namen leben.“
Erzählst du mir etwas von deinen Eltern, von deinem Bruder?
„Meine Mutter, eine geborene Armfeldin und eines Amtsmannes Tochter, war eine streng gläubige, geduldige und stille Frau. Sie lebte noch, als ich Straßburg verlassen musste. Mein Vater war Leutnant in der Kaiserlichen Armee. 1683 wurde er bei der Vertei-digung Wiens gegen die Türken schwer verwundet, daran ist er ge-storben. Er war sehr streng und soldatisch. Da ich in der Jugend einen recht wilden und eigensinnigen Charakter hatte, die Schule nicht ernst nahm, viel Unsinn anstellte, hat er mich oft verwünscht und mir schon damals den Weg zum Scharfrichter prophezeit. Mei-nen Bruder habe ich das letzte Mal gesehen, als ich etwa 26 Jahre alt war. Auch er hatte es in der Kaiserlichen Armee bis zum Leut-nant gebracht.“
Und du? Bist auch du Soldat geworden?
„Ja! Auch ich sollte die Tradition fortsetzen. Deshalb kam ich, durch die Vermittlung meines Vaters, bereits mit 10 Jahren zu Ba-ron Georg Eberhard von Heydersdorff, dem ich aufwarten musste. Später ließ er mich zum Fourier-Schützen ausbilden. Alles hätte gut werden können.“
Warum wurde es nicht gut?
„Neidische Intriganten warfen dem Baron vor, er habe die Festung Heidelberg, deren Kommandant er war, feige an den Feind über-geben. Er wurde zum Tode verurteilt. ihm alle Titel aberkannt. Später begnadigt ihn der Kaiser zwar, doch er verbannt ihn außer Landes. Ich verlor dadurch meine Stellung, meine Zukunft.“
Was hast du danach unternommen?
„Ich bin in mein Elternhaus zurückgekehrt. Doch da mein Vater gefallen war herrschte Not im Haus. Um meiner Mutter nicht zur Last zu fallen, habe ich mich vom „Kaiserlich-Daffischen Re-giment“ anwerben lassen. Später diente ich im „Kaiserlich Vaubo-nischen Dragoner-Regiment“ in den Spanischen Niederlanden.“
Als einfacher Rekrut?
Anfangs schon, doch nach einiger Zeit wurde ich zum Wachtmeis-ter ernannt.
Dann gab es doch gar keinen Grund, zum Räuber zu werden.
„Unter den Kameraden war einer der mich ständig provozierte, mich beleidigte. Mit dem habe ich mich geschlagen und ihn so schwer verletzt, dass ich annehmen musste, er würde sterben. Um der drohenden Strafe zu entgehen die mich in so einem Fall erwar-tet hätte, bin ich desertiert.“
Ist dein Gegner wirklich gestorben?
„Das weiß ich nicht, habe es nie erfahren.“
Wohin bist du geflohen?
„In den Niederlanden konnte ich nicht bleiben, auch nicht in Spa-nien. Unter falschen Namen bin ich als Schlossergeselle Philipp Mengenstein’ bis Prag geflohen. Dort traf ich einen Bekannten, der sich „Der kleine Fourier“ nannte. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich ein ehrliches Leben geführt. Er war es, der mich auf den falschen Weg gebracht hat!“
Mit ihm nahm das Unglück seinen Anfang?
„Ja! Da mein Geld zu Ende ging und ich keinen anderen Broter-werb fand, das ganze Land lag nach langen Kriegen am Boden, ließ ich mich von ihm anwerben. Er gab vor Kapitän zu sein, wolle mit mir nach Italien reisen. Doch das war gelogen. Nach Italien konnte er gar nicht, hatte dort einen Obristen erstochen. Er reiste mit seiner Diebes-Kompanie in Mähren umher. Später ist er wegen seiner Missetaten in preußischen Landen enthauptet worden.“
Durch ihn bist du zum Räuber geworden? Warum?
„Was sollt ich tun fremd und ohne Geld? Er machte mich mit jüdi-schen Hehlern, mit Leutnant Wittorffen und einem Mann, der sich nur N.N. nannte, bekannt. Diese Hehler verstanden es meisterlich mich zu verführen. Sie sagten, wenn ich mich bereit erklärte an ih-ren Unternehmungen teilzunehmen, würde ich tausend Taler zu-sätzlich zu meinem Anteil erhalten. Dem konnte ich nicht wieder-stehen. Gab nach und nahm an verschiedenen Kirchenräubereien und Diebstählen in Prag teil.“
Und, hast du die tausend Taler bekommen?
„Nein! Alles war Lug und Trug, sollte mich nur zu den Taten ver-leiten.“
Warum bist du trotzdem bei ihnen geblieben?
„Der Hunger hat mich dazu getrieben. Nach dem dreißigjährigen Krieg verschlechterte sich die Lebenslage auch in Böhmen, dass mir gar keine andere Wahl blieb. Die Armeen waren aufgelöst, ent-lasse Söldner trieben sich, um überleben zu können, raubend und plündernd im Land herum. Hunger und Krankheiten grassierten. Das Handwerk lag danieder, und auch der Handel.“
Was weiter?
„Eine Zeit lang haben wir uns von Einbrüchen in Kirchen und von anderen Räubereien ernährt.“
Erzähle!
„In Prag und Umgebung waren es acht Kirchen, in die wir ein-gebrochen sind und in noch manches Privathaus.“
Was habt ihr mit der Beute gemacht?
„Die Juden nahmen sie uns ab. Doch sie nutzten unsere Lage aus, zahlten immer weniger. Bald blieb uns nicht anderes übrig als wegzugehen. Zusammen mit Wittorffen und N.N. bin ich, erst der Moldau dann der Elbe folgend nach Sachsen gezogen. Als unser Geld zu Ende ging, haben wir in der Oberlausitz zwei Kirchen be-sucht, mitgenommen was uns wertvoll schien.“
Warum hattet ihr es vor allem auf Kirchen abgesehen?
„Bei den armen Leuten war nichts zu holen, denen ging es wie uns. Beute war hingegen beim Adel und in den Kirchen zu finden. Beide pressten das Letzte mit Steuern und Abgaben aus Bauern und Handwerkern heraus. Es war unrecht erworbener Reichtum! Was lag also näher als sich bei ihnen zu bedienen.“
Warum seid ihr 1702 gerade nach Dresden gezogen. Gab es dafür einen Grund?
„Wir hatten vom Krieg gehört, den August der Starke gegen die Schweden führte, wollten uns als Soldaten anwerben lassen. Doch man gab uns keine Chance. Also blieb uns keine andere Wahl als beim Räubergewerbe bleiben, um überleben zu können.“
Hattet ihr Bekannte in Dresden?
„Ich nicht. Doch Wittorffen und N.N. kannten den alten Samuel, einen Zahnarzt, der uns mit Ungern und dessen Knecht Bernhardi bekannt machte. Von denen erhielten wir Hinweise, wo sich eine Gelegenheit bot, etwas zu stehlen. Sie waren es auch, die uns den Hinweis auf die Reichtümer im Gewölbe des Hochgräflich Beich-lingischen Hauses am alten Markt in Dresden gaben. Am 16. No-vember 1702 sind wir nachts in das Gewölbe eingestiegen und ha-ben vieles mitgehen lassen.“
Was habt ihr mitgehen lassen?
„In dem Gewölbe fanden wir einen Kasten mit Schüsseln, Tellern und Leuchtern aus Silber. Manche auch vergoldet. Sogar ein Wein-becher aus purem Gold war darunter. Es war kein schlechter Anfang.“
Das musstet ihr doch noch zu Geld machen!
„Darin lag eine große Gefahr, die letztendlich auch zu meiner ers-ten Verhaftung führte.“
Wie kam es dazu?
„In Halle gab es einen Juden Namens ‚Assor Marxen’, der als Hehler bekannt war. Zu ihm trugen wir die Beute. Nun ergab es sich aber, dass der Jude nicht im Haus war. Nur seine Frau trafen wir an, die ganz gierig wurde, als sie die Schätze sah. Mit ihr konn-ten wir einen sehr günstigen Handel abschließen, der sich aller-dings bald als großes Verlustgeschäft erweisen sollte. Auf dem Rückweg nach Leipzig wendeten wir viel Mühe darauf, uns vor Nachstellungen und dem Zugriff der Justiz zu schützen. So verab-schiedeten wir den Postillion noch vor dem Stadttor, trugen unser Gepäck selbst in die Stadt hinein. Dann ließen wir es durch immer andere Leute in verschiedene Häuser transportieren, um schließ-lich im ‚Schwarzen Kreuz’ am Brühl Quartier zu nehmen.“
Und doch hat man euch gefunden und gefangen genommen?
„Da hatte der Teufel seine Hand im Spiel! Als der Jude nach Hau-se kam und ihm die Frau von dem Geschäft erzählte, merkte er, dass wir sie gewaltig übervorteilt hatten. Wutentbrannt kam er, zu-sammen mit seinem Sohn, nach Leipzig geeilt. Es gelang ihnen tat-sächlich uns im „Schwarzen Kreuz“ aufzuspüren. Herbeigerufene Gerichtsdiener nahmen uns fest und brachten uns ins Rathausver-lies. Es war ein großer Fehler, dass wir uns damals widerstandslos ergaben, hätten wir sie doch ohne große Mühe erledigen können.“
Konnte man euch denn beweisen, dass ihr die Sachen gestohlen hattet?
„Zum Glück nicht! Wir behaupteten stur und steif, dass wir die Koffer mit dem Diebesgut zwei Gaunern abgenommen hätten, die uns verdächtig vorkamen. Die seien geflohen, als wir sie stellten und hätten die Koffer zurück gelassen.“
Haben sie euch das geglaubt?
„Nein! Doch wir sind bei unserer Behauptung geblieben - trotz der Folter!“
Ihr wurdet gefoltert?
„Ja! Diese Hunde! Erst haben sie mir fast die Finger zerquetscht, dann die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und mich an einem Seil bis zur Decke hochgezogen, da hängen lassen. Ich war fast wahnsinnig vor Schmerzen, doch ich wusste, wenn ich ge-stehe, übergeben sie mich dem Henker. Auch N.N. hat diese Tortur überstanden, ohne etwas zu gestehen. So mussten sie die Folter ab-brechen.“
Sie mussten die Folter abbrechen? Wieso?
„Das Gesetz ließ damals nur die 1. Stufe der Folter zu, solange es keine Augenzeugen oder wenigstens das Geständnis eines der An-geklagten gab.“
Ihr seid also frei gekommen?
Wären wir, wenn nicht höheren Ortes Einspruch erhoben worden wäre. Daraufhin schleppten sie uns nach Dresden und sperrten uns in der Salomonisbastion der Festung ein.
Ich kenne die Stelle! Dort befindet sich heute das Rathaus.
„Das Rathaus? Sagt mir nichts, gab es damals nicht. Wir mussten schwerste Arbeit leisten. Nachts wurden wir an die Wand gekettet. Sie wollten uns zermürben.“
Aber du bist doch bald entflohen!
„Ja! Die Wächter glaubten, dass wir zu erschöpft wären, um einen Fluchtversuch zu unternehmen. Doch da hatten sie sich geirrt. Im Winter 1703 zu 1704 gelang es uns nachts über den Festungswall und den zugefrorenen Festungsgraben zu fliehen.“
Toll! Wohin seid ihr gegangen?
„Nach Niederbobritsch, zu Samuel Richter. Bei dem fanden wir geheimen Unterschlupf.“
Und euer Versteck im Tännichtgrund? Warum bist du nicht dahin geflohen?
„Damals war ich noch nicht Mitglied der „Schwarzen Garde“, die dort ihr Versteck hatte. Aber auch später, als ich bereits deren An-führer war, zog es mich nicht an diesen Ort. Der Aufenthalt war mir zu unbequem.“
Die Diebeskammer! Gab es dort wirklich eine Höhle, in der eure Beute aufbewahrt wurde? Eigentlich ist das gar nicht möglich, denn in dem Porphyrfelsen gibt es keine Höhlen. Oder hattet ihr sie selbst in die Felsen getrieben?
„So einen Unsinn erzählt man heute über uns? Es gab keine Höhle, nur ein an den Fels gelehntes Blockhaus aus Baumstämmen zu-sammen gezimmert, eng und feucht. Ich war nur selten dort.“
Man erzählt sich auch lustige Geschichten über euch. Wie war das damals, als ihr nach dem großen Brand in Wurzen in die Domkir-che eingebrochen seid?
„Davon hast du gehört? Ja, da haben wir es den Wachpersonal gegeben. Beim Aufbrechen der Tür zur Sakristei ließ sich Lärm nicht ganz vermeiden. Den hatten auch die Domwächter gehört und kamen neugierig herbei. Wir hatten aber die Tür hinter uns wieder verschlossen, so glaubten sie, es wäre alles in Ordnung und setzten sich unter einem nahebei stehenden Baume nieder. Das war aber gerade gegenüber dem Fenster, durch das ich den Dom mit der Beute verlassen wollte. Zum Glück bemerkten sie nicht, dass ich bereits auf dem Fenstersims saß. Doch was nun tun? Wenn ihr glauben solltet, dass meine Gefolgsleute dumm waren, so wirst du gleich eines besseren belehrt. Zimmermann hatte ich zum Schmiere stehen abkommandiert. Der sah nun mein Dilemma. Torkelnd und rülpsend, einen Betrunkenen markierend, ging er auf die Wächter zu, hockte sich in deren Nähe nieder und verrichtete dort seine Notdurft. Die Wächter murrten, verzogen sich aber vor dem Ge-stank, den Zimmermann verbreitete. Ich entkam mit der Beute. In sicherer Entfernung haben wir uns gegenseitig auf die Schulter gehauen, getanzt und gegrölt bis uns die Luft wegblieb.
Wieso seit ihr eigentlich in die kleine Kirche in Pretschendorf ein-gebrochen?
Wir hatten einen Hinweis erhalten, dass sich in dieser Kirche, in einer eisenbeschlagenen und gut verschlossenen Truhe ein Schatz befände.
Und hat es sich gelohnt?
Es war eine schwere Arbeit, die beiden starken Türen der Sakristei samt ihren Haken aus der Wand zu reißen. Zwar fanden wir die mit Eisenblechen beschlagene und mit sechs Schlössern beschlagene Kiste und haben sie zerschlagen, doch bares Geld haben wir darin nicht gefunden. Nur 5000 Gulden an Schuldscheinen. Damit konnten wir nichts anfangen.
Haben euch die Pretschendorfer nicht vertrieben?
Unsinn! Sie haben uns in der Sonntagnacht gar nicht bemerkt. Die alte Kirche stand, etwas entfernt vom Dorf, inmitten des Friedho-fes. Gegen die „Schwarze Garde“, wie wir inzwischen genannt wurden, hätten die Bauern ja auch gar keine Chance gehabt.
Also war alles umsonst?
Wir haben wenigstens die Ausstattungsstücke mitgenommen.
Seid ihr danach zu eurem Versteck im Tännichtgrund zurück ge-kehrt?
Nein. Die meisten meiner Gefolgsleute arbeiteten doch am Tag in ganz ehrbaren Berufen. Ich hingegen zog es vor, nachdem ich eini-gen Reichtum erworben hatte, in den Städten zu wohnen, wo ich als ehrbarer Bürger geachtet war. Auch in Dresden hatte eich eine Wohnung, in der ich mit meiner Geliebten Marianne lebte. Das gab mir die Gelegenheit auszuspähen, wo etwas zu holen war. Meinen Aufenthalt in Dresden kannten nur Sarberg, Hentschel, Schöneck, Lehmann Schickel und Eckhold. Nur diese Hauptleute durften mich besuchen, wenn es galt, neue Unternehmen zu besprechen.
Wo seid ihr noch eingebrochen?
Ich entsinne mich nicht mehr an alles, nur an die Kirchen in Grot-tau, Meißen, Kosewitz, Kaditz, Strehle, Belgern, Altenburg und Zit-tau. In die sind wir eingebrochen. Auch reiche Privatleute suchten wir heim, so den Pächter des Breittenbachischen Rittergutes. Manchmal mussten wir allerdings auch ohne Beute abziehen. So bei einer Frau an der Mauer in Jena, beim Gemeinderat und einer Kirche in Halberstadt, dem Schloss in Weißenfels, dem Pfarrer zu Glashütte und noch bei einigen anderen.
Hat sich denn das alles gelohnt?
Wir haben zwar ein gefährliches Leben geführt, das uns auch die Qualen und Nöte in den Gefängnissen beschert, und schließlich nach unserer Verhaftung im Jahr 1710 zu Verurteilung zum Tod-geführt hat, aber wir lebten auch eine Zeit lang in Wohlstand.
Wie seit ihr vorgegangen, wenn ihr in ein Privathaus eingedrungen seit?
Meist konnten wir uns durch ein Fenster, das wir zerschlugen, Zu-tritt verschaffen. Erst durchsuchten wir die unteren Räume und brachen danach mit Gewalt die Türen zu den oberen Räumen auf. Rücksicht kannten wir nicht, haben die Leute gebunden und geprü-gelt, bis sie uns verrieten, wo sie ihr Geld verborgen hatten. Aber erschlagen haben wir niemanden.
Was habt ihr eigentlich gestohlen?
Vor allem hatten wir es auf Bargeld abgesehen, doch wir haben auch alles andere was uns als wertvoll erschien mitgehen lassen. In den Kirchen silberne Pokale und Becher, Messtücher. In den Privathäusern Stoffe, Waffen und vieles mehr Insgesamt sollen wir Sachen für mehr als 20.000 Gulden gestohlen haben, wurde mir in den Verhören vorgeworfen.
Wieso hast du das alles zugegeben. Ohne dein Geständnis, oder ei-nen Zeugen mussten sie dich entlassen, wie anfangs in Freiberg. War das nicht mehr so?
„Diese Hunde! Sie hatten sich eine bestialische Tortur ausgedacht. Sie banden mir die Hände auf den Rücken und fesselten mich mit eisernen Ketten am Hals, den Händen und Füßen. Es war furcht-bar. Ich lag im Unrat, im eigenen Kot. Unter den Eisenfesseln hatte sich das Fleisch entzündet, es eiterte. Die Schmerzen wurden schließlich unerträglich.“
Eine solche Folter war doch gar nicht zulässig!
„Es war hinterlistig und bestialisch ausgedacht. Diese Art der Fol-ter war noch nie angewendet worden, war in den Gesetzten nicht erfasst und erforderte deshalb auch keinen Gerichtsbeschluss. Nach sechsundzwanzig Tagen war ich fast wahnsinnig, dem Tod nahe. Ich sah keinen anderen Ausweg mehr, als alles zuzugeben.“
Was geschah danach?
„Sie haben alle festgenommen, die ich genannt hatte – als ich es erfuhr, habe ich mich verflucht. Doch es war zu spät. Das Schöp-pengericht verurteilte mich und die Hauptleute zum Tod durch das Rad. Vom Landesfürsten wurde es in eine Enthauptung umgewan-delt. Ein kurzer und schmerzloser Tod.“
Hast du die Taten eigentlich bereut?
„Ja! Doch es war zu spät. Ich habe als Zeichen der Reue 4 Exemp-lare über die Evangelia und Epistel gekauft und verschenkt. Mei-nen Kameraden gab ich 5 weiße Mützen.“
Wo fand die Hinrichtung statt:
„Am 8. März 1715 gegen 9 Uhr auf dem Platz des Hofgerichtes am Schwarzen Tor. Mit mir starben Der Waldbauer Samuel Schickel, der Studentenfriedrich und der Böttcher Christian Echold. Es war eine große Schau – über 20.000 Menschen kamen um die Hinrich-tung zu verfolgen. Alles ging sehr rasch. Auf dem Schinderkarren brachte man uns zum Richtplatz. Ich legte die Beichte ab, erhielt die Absolution und sprach zu dem Volk, das ich zu einem tugentli-chen Wandel ermahnte. Dann zwang man mich den Kopf vorzu-strecken...“
Kaum sind diese letzten Worte in mir verklungen, verschwindet der Kopf, der Nebel verfliegt – ich erwache. Noch ganz benommen richte ich mich auf, blicke mich um. Alles ist ruhig, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Das schreckliche Bild ist ver-schwunden. Und doch, sobald ich die Augen wieder schließe, mich erinnere, erscheint das Bild von dem Kopf, höre ich diese Stimme in mir. Also doch nicht nur ein Traum. Hastig packe ich meine Sa-chen zusammen und begebe mich auf den Weg nach Hause. Noch heute sinne ich darüber nach, wie das geschehen konnte. Hatte meine Phantasie mir das Erlebnis vorgegaukelt, oder ist doch etwas von dem geschehen, was mir immer noch im Kopf schwirrt. Wie dem auch sei, nun habe ich aufgeschrieben, was mir Lips Tullian erzählt hat und vielleicht findet er dadurch doch noch seine Ruhe...
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Vielleicht möchtest du wissen, auf welchem Weg man zu diesem wunderschönen Grund gelangt?
OK! Dann werde ich dich führen. Am günstigsten reist du mit dem PKW, oder mit Bahn und Fahrrad an. Aber auch der Wanderer, der wie der Radler am Bahnhof Klingenberg aussteigen sollte, erreicht auf Schusters Rappen bald den Tännichtgrund. Ich empfehle über die in Richtung Tharandt liegende Straßenbrücke, zur nördlich der Bahnstrecke verlaufenden Salzstraße wechseln, dieser bis zum Hinweisschild „Lips Tullian Felsen“ zu folgen und von da aus den Tännichtgrund zu erschließen.
Als Auto-Tourist hast du zwei Möglichkeiten: Auf der L194 von Dresden über Freital, Tharandt und Grillenburg nach Naundorf kommend, biegst du dort etwa 100m nach dem Ortseingangsschild und dem rechts liegenden Sportplatz scharf nach links ab und folgst der Straße bis zum alten Bahnhof. Kommst du über die B173 aus Richtung Freiberg oder Dresden, wechselst du in Naundorf, gegen-über dem alten Gasthof, auf die L194 in Richtung Grillenburg. Dort, wo die Straße scharf nach links biegt, fährst du gerade aus, so kommst du ebenfalls zum alten Bahnhof.
Dort angekommen folgst du dem Bahndamm, oder dem parallel zu ihm führenden Weg, und gelangst nach etwa einundeinhalb Kilo-metern zum westlichen Eingang des Grundes. Unterwegs siehst du unten im Tal das Naundorfer Freibad liegen.
Um vom Osten her zum Tännichtgrund zu gelangen, benutzt du am besten die am Ortsausgang von Grillenburg links nach Neu-Klingenberg abzweigende L189 und verlässt diese nach den Plat-tenbauten rechts, in Richtung Colmnitz. Der L190 folgst du ohne abzubiegen bis nach Colmnitz. Etwa 200m nach der Überquerung der Bahnstrecke Dresden – Freiberg erreichst du das alte Gleisbett der Kleinbahn. Rechts liegt der alte Bahnhof. Dort parkst du dein Auto, oder du fährst bis zu dem zum Weidehof gehörenden Park-platz unmittelbar neben dem Bahndamm. Der aus der LPG hervor gegangene „Weidehof“, mit Kräutergarten, Grill- und Spielplatz, links unten im Tal, lädt zu einer Rast ein. Bis zum östlichen Ein-gang des Tännichtgrundes folgst du dem alten Gleisbett und er-reichst nach etwa 500 m den Hangwald.
Folgt man der alten Bahnanlage von einem Ende des Grundes zum anderen, zurück muss man ja auch wieder, so hat man gut seine 13 km zurückgelegt. Leider findet der müde Wanderer unterwegs kei-ne Raststätte. Er sollte also einen gut gepackten Rucksack mit sich führen.

Quellen:
Uwe Danker: Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der frühen Neu-zeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986 ISBN 3-518-28307-3
Heiner Boehnecke, Hans Sarkowicz (Hrsg.): Sachsens böse Kerle. Räuber, Schmuggler, Wilderer. Eichborn, Frankfurt am Main 1993 ISBN 3-8218-1174-9
Roscher Samuel: Des sogenannten Lips Tullians ausführliche Be-känntniß sowohl seiner, als auch aller bösen Consorten Diebes- und Mord-Geschichte, Leipzig, Verlag König, Ausgabe 1715
Frei Ernst: Lips Tullian und seine Raubgenossen, Neusalza, Verlag Oeser, Ausgabe 1854
??? : Des bekannten Diebes, Mörders unbd Räubers Lips Tullians und seiner Complicen Leben und Uebeltaten, Dresden, 1716

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