Donnerstag, 14. Mai 2009
Der Tod des Auserwählten
Kaum in Besitz des Führerscheins, geht Thomas zusammen mit seiner Mutter zum Opelhändler, um den für ihn reservierten Kadett in Empfang zu nehmen. Noch ein wenig unsicher rangiert er das Auto aus der Halle, doch bereits nach wenigen Kilometern gaukelt ihm sein Gefühl perfektes Beherrschen vor. Zu Hause angekommen, versucht seine Mutter, ihn davon zu überzeugen, dass es besser wäre, wenn er mit einer größeren Fahrt bis zum nächsten Morgen wartet. Doch Thomas ist anderer Mei-nung. Er will nicht warten, setzt sich über ihren Rat hinweg. Während seine Mutter murrend nach oben geht, steigt er wieder in seinen nicht mehr ganz neuen, aber noch gut erhaltenen roten Kadett. Ihre Mahnung: „Sei vorsichtig! Fahre nicht so schnell!“, erreicht zwar noch sein Ohr, doch nicht mehr sein Bewusstsein.
Er schwelgt in dem Gefühl, nun endlich, ohne die lästige Kontrolle des Fahrlehrers, am Steuer zu sit-zen und der Maschine seinen Willen aufzwingen zu können, fühlt sich frei und stark. Die Kraft des Motors scheint auf ihn überzugehen. Laute Musik hämmert aus den Boxen, übertönt fast das Moto-rengeräusch. Kilometer um Kilometer legt er wie im Rausch zurück. Dämmerung kriecht über das Land und es beginnt zu regnen. Die Scheibenwischer ziehen Schlieren auf der Frontscheibe und er-schweren die Sicht. Trotzdem jagt er vorwärts. Die Pfütze vor einer Bushaltestelle übersieht er. Brau-ne Brühe spritzt bis auf den Bürgersteig. Im Rückspiegel beobachtet er die ihm nachdrohenden Men-schen. Höhnisch lacht er, pfeift durch seine Zahnlücke und gibt Gas.
Kai ist gleich nach der Schule zur Apotheke gelaufen, wo er für seinen Großvater das lebenswichtige Insulin abholen soll. Später fährt er mit dem Fahrrad zu ihm in den Nachbarort. Opa freut sich immer wieder über die Hilfsbereitschaft seines Enkels. Nachdem sie einige Zeit über die Schule, die Lehrer und Mitschüler geredet haben und Kai seine Cola getrunken hat, begutachtet er Opas neuen Compu-ter und richtet für ihn den Internetzugang ein. Es dauert einige Zeit, bis er die wichtigsten Funktionen erklärt hat, danach begibt er sich auf den Heimweg.
Inzwischen ist es Abend geworden. Der Regen setzt Tropfen auf seine Brille, die Konturen der Stra-ße verschwimmen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, folgt er dem weißen Begrenzungsstreifen, den er durch die nassen Gläser noch gut erkennt. In der langen Rechtskurve, dicht vor dem Ortsein-gangsschild, passiert es...
Auch Thomas ist auf dem Weg nach Hause und steigt, bevor er das Dorf erreicht, noch einmal richtig ins Gas. Mit zusammengekniffenen Augen starrt er durch die leicht verschmierte Frontscheibe, sieht in der Ferne bereits die Lichter des Ortes. Noch einmal genießt er den Rausch der Geschwindigkeit. Dicht am rechten Straßenrand fahrend, jagt er in die Rechtskurve hinein. In letzter Sekunde erkennt er zwar noch das rote Rücklicht eines Fahrrades, doch ihm fehlt die Routine, um den Zusammenstoß abwenden zu können. Vor Schreck erstarrt, verkrampft er hinter dem Lenkrad, kann nicht reagieren. Er spürt den Stoß, erschrickt, hört blechernes Kratzen, sieht einen dunklen Schatten rechts an der Seitenscheibe vorbeihuschen.
„Verdammter Mist!“, flucht er, bremst kurz, fährt dann wie unter Zwang weiter. Er will nicht wahrhaben, was geschehen ist, hofft, dass er sich getäuscht hat. Zu Hause stellt er das Auto hinter dem Haus unter dem Carport ab. Er hatte den Zusammenstoß zwar registriert, doch die Erkenntnis, dass er ei-nen Unfall verursacht hat, verdrängt er verzweifelt.
Es ist Kai, der von dem heranrasenden PKW erfasst und zur Seite geschleudert wird. Er prallt gegen einen Baum, rollt in den Straßengraben. Kai hat starke Schmerzen in der Brust, doch er ist bei Be-wusstsein. Leise ruft er um Hilfe -niemand hört ihn. Aufstehen kann er nicht. Bei jeder Bewegung ja-gen stechende Schmerzen durch seinen Körper. Das Atmen fällt ihm schwer. Furchtbare Angst treibt ihn. Stöhnend kriecht er vorwärts, doch nach wenigen Metern verlässt ihn die Kraft. Ihm wird schlecht. Mühsam hebt er, um Hilfe flehend, seine Hand, doch da ist keiner, der sie ergreift. Kälte kriecht in seinen Körper, er hustet Blut. Die Schmerzen lassen nach, die Bilder verschwimmen. Strahlende, wirbelnde Helle blendet ihn. Kai versinkt ins Nichts...
Erst als Thomas den zertrümmerten Scheinwerfer sieht und am verbeulten rechten Kotflügel gelbe Farbspuren findet, wird ihm richtig bewusst, dass er jemanden angefahren hat. Er gerät in Panik. Doch nicht die Sorge um den Verunglückten, nein, die Angst vor den Folgen beherrscht sein Denken. Am ganzen Körper zitternd erwägt er, zur Unglücksstelle zurückzufahren. Bereits im Auto sitzend, zögert er...
„Wenn man mich dort sieht, liegt nahe, dass ich der Unglücksfahrer bin“, überlegt er. Das will er auf keinen Fall. „Und wenn der, den ich angefahren habe, stirbt?“, fragt er sich.
Thomas versucht abzuwägen, tröstet sich dann mit: „Bestimmt habe ich ihn nur vom Rad gestoßen. Es wird schon nicht viel passiert sein. Vielleicht ein paar Schrammen. Warum fährt der Heini aber auch im Dunklen?“ Damit schiebt er die Schuld von sich weg, wie es so seine Art ist.
„Erkannt hat der mich bestimmt nicht.“ Die verräterische Farbe am Kotflügel poliert er weg. Kratzer und Dellen kann er jedoch nicht beseitigen. Ratlos steht er davor, sucht nach einer Möglichkeit, diese Spuren des Unfalles zu vertuschen, hat eine Idee: Kurz entschlossen fährt er ein Stück zurück und streift beim wieder Einparken mit Absicht die rechte Säule des Carports.
„Es hat geklappt“ stellt er fest, als er sich den Schaden besieht. Der Kotflügel ist jetzt stärker beschä-digt. An der Säule findet er rote Farbe von seinem Auto. „Trotzdem muss ich das schnell reparieren lassen, damit auch wirklich alle Spuren verschwinden“, sagt er sich. „Gleich morgen früh fahre ich zu Auto-Schulze. Bestimmt haben die auch am Sonnabend geöffnet. Die Kosten der Reparatur muss die Versicherung übernehmen“, meint er. Mit zitternden Fingern zündet er sich eine Zigarette an, zieht den Rauch tief in die Lunge. Langsam spürt er, wie die Angst schwindet. Aufmerksam blickt er sich um, ob ihn jemand beobachtet haben könnte. Da er niemanden bemerkt, ist er beruhigt.
Über eine halbe Stunde vergeht, bevor ein aufmerksamer Passant Kais leblosen Körper im Straßen-graben bemerkt. Per Handy verständigt er Polizei und Notarzt.
Thomas steht noch immer bei seinem Auto, als der Wagen des Notarztes und kurz darauf der Einsatzwagen der Polizei mit Blaulicht durch den Ort in Richtung Unfallstelle fahren. Jetzt ahnt er, dass doch Schlimmeres passiert ist, als er gehofft und sich immer wieder eingeredet hatte. Doch nun kann er nicht mehr zurück. „Die werfen mir Fahrerflucht und unterlassene Hilfeleistung vor. Das gibt ein Strafverfahren. Aber es wird ja niemand erfahren, dass ich den Unfall verursacht habe“, tröstet er sich. „Keiner hat mich gesehen. Die Spuren am Auto sind in Kürze beseitigt.“ Skrupel quälen ihn nicht. Etwas ruhiger geworden, geht er schließlich in die Wohnung, wo ihn seine Mutter schon ungeduldig erwartet.
„Er ist nach dem Unfall wahrscheinlich noch bei Bewusstsein gewesen“, vermutet der Notarzt, der Kai nun nicht mehr helfen kann. „Trotz seiner Verletzungen, er muss gegen den Baum geschleudert wor-den sein, hat er sich ein Stück geschleppt. Dann ist er bewusstlos geworden, ist wahrscheinlich an inneren Verletzungen gestorben. Darauf deutet das Blut hin, das ihm aus dem Mund gelaufen ist. Wäre sofort Hilfe geholt worden, hätte er überlebt.“
Die Polizei hat die Unfallstelle abgesperrt. Blaulichter der grün-weißen Einsatzfahrzeuge blinken in der Dunkelheit. Sie locken in paar Neugierige an, die aus dem kaum einhundert Meter entfernten Ort her-zu laufen.
Die Absperrung hält die Gaffer auf Abstand. Für sie gibt es nicht viel zu sehen. Nur die silbern glän-zende Schutzplane, die über den Toten gedeckt ist, reflektiert das Licht der Scheinwerfer. Polizisten suchen das Gelände ab, finden das ein ganzes Stück zur Seite geschleuderte Fahrrad. An ihm sind die Spuren des Zusammenstoßes deutlich zu erkennen. Die linke Pedale ist abgerissen, der Lenker verbogen, das Vorderrad demoliert. An der linken Seite des gelben Fahrrades finden sie rote Farbspu-ren. Sie stammen wahrscheinlich von dem Auto, das den Unfall verursacht hat. Bremsspuren sind auf dem nassen Asphalt nicht vorhanden, oder nicht zu erkennen. Splitter eines demolierten Scheinwer-fers liegen dort, wo der Unfall geschehen sein muss.
„Arbeit fürs Labor“, bemerkt einer der Polizisten und sammelt die Splitter sorgfältig in eine Plastiktüte.
Als die Mutter von Thomas von dem Schaden am Auto erfährt, wird sie fuchtig: „Für die Reparatur bekommst du von mir keinen Pfennig. Du hast nicht auf mich gehört, bist losgerast. Nun sieh auch, wie du damit zurecht kommst.“ Sie läuft hinunter, um sich den Schaden selbst anzusehen. „Zum Glück ist die Säule des Carports nicht beschädigt worden“, stellt sie aufatmend fest. „Das wäre teuer gewor-den. Dafür hätte ich aufkommen müssen.“ Für den Schaden am Auto hat sie nur einen kurzen Blick übrig. „Musst du ihn eben stehen lassen“, ist ihr ganzer Kommentar. Damit wendet sie sich ab.
„Die Versicherung muss doch zahlen?“, fragt Thomas verunsichert. „Du hast doch die Versicherung abgeschlossen“, erkundigt er sich. Bisher hatte er sich nicht dafür interessiert, es einfach vorausge-setzt.
„Das kannst du vergessen“, bekommt er zur Antwort. „Für Schäden, die man selbst verursacht hat, zahlt weder die Haftpflicht- noch die Teilkaskoversicherung. Das Geld musst du schon selbst aufbrin-gen. Sonst bleibt das Auto stehen.“ Sie geht ohne ein weiteres Wort in die Wohnung zurück.
Thomas ist geschockt. Darauf war er nicht gefasst. Bisher hatte sie, nachdem er ihr mit seiner Bettelei lange genug auf die Nerven gegangen war, immer wieder seine finanziellen Probleme gelöst. Seinen Lohn gibt er bereits Mitte des Monates aus. Gespart hat er nichts. Es war ja so bequem, auf Mutters Kosten zu leben. Dass sie mit ihrem Geld um so mehr knausern musste, das interessierte ihn nicht. Und plötzlich lässt sie ihn allein. Das ist eine ganz neue Erfahrung. Es bedeutet, dass er den Schaden am Auto nicht beseitigen lassen kann; denn wie er zu dem Geld kommen könnte, weiß er nicht. Er weiß ja nicht einmal, wie viel er brauchen wird.
„Die muss mir helfen. Der mache ich die Hölle heiß. Verdammt noch mal!“, schimpft er vor sich hin. Doch er traut sich nicht nach oben. „Wird sie anders reagieren, wenn ich ihr von dem Unfall erzähle?“, überlegt er. „Das bringt nichts. Sie rastet aus. Geht vielleicht sogar zur Polizei“, vermutet er, hat Angst davor. Er entschließt sich, dabei zu bleiben, dass er beim Einparken an der Säule des Carports ange-eckt ist. „Zum Glück steht das Auto so, dass der Schaden nicht gleich auffällt“, sagt er sich. Später am Abend versucht er doch noch, seine Mutter dazu zu bringen, ihm das Geld für die Reparatur zu ge-ben. Doch sie widersteht diesmal all seiner Drängelei. “Ich habe das Geld nicht“, sagt sie energisch und reagiert auf sein Reden nicht mehr. Es hilft nichts, Thomas muss sich damit abfinden.
Tage vergehen, bevor die Leiche zum Begräbnis freigegeben wird. Die Obduktion hat bestätigt, was der Notarzt bereits vermutete. Wenn Kai schnell geholfen worden wäre, würde er noch leben.
Seit er sich einer Sekte angeschlossen hat, lebt Kais Vater nicht mehr bei der Familie, hatte alle Ver-bindungen zu ihr abgebrochen. Als ihn seine Frau jedoch von dem Unglück unterrichtet, da kommt er sofort.
„Wer war es, der meinen Jungen umgebracht hat?“, das ist die erste Frage, die er stellt. „Der kommt nicht ungestraft davon, dafür werden wir sorgen!“ Der Ton, in dem er das sagt, erschreckt Kais Mutter. Seine Augen glühen fanatisch und sein ganzes Gesicht drückt Hass aus. „Er war ein Auserwählter!“
„Die Polizei wird ihn finden. Dann erhält er seine Strafe, da bin ich ganz sicher“, sagt sie schluchzend, will ihn damit beruhigen, doch er richtet sich auf und erklärt drohend: „Der Mörder eines Auserwählten unterliegt nicht dem Urteil weltlicher Richter! Wir folgen den Geboten unseres Propheten. Nur sein Urteil ist für uns gültig!“
Sie bringt nicht die Kraft auf, ihm zu widersprechen. Wegen der Beerdigung gibt es Meinungsver-schiedenheiten zwischen ihnen. Mit einer Einäscherung, wie sie vorschlägt, ist er nicht einverstanden. Belehrend sagt er zu ihr: „Das tätowierte Zeichen der Sekte, am rechten Arm von Kai, darf nicht zer-stört werden. Sonst ist ihm der Übergang in das Reich der Götter verschlossen.“ Er legt die linke Hand auf seinen rechten Arm, wo sich bei ihm das Brandzeichen der Sekte befindet. Diese Geste ist für ihn wie ein Schwur.
Auch Kai interessierte sich anfangs für diese Sekte, hat das tätowierte Zeichen der Auserwählten als erste Stufe der Mitgliedschaft bereits erhalten. Die Taufe jedoch, die ist noch nicht erfolgt. Dafür war er zu jung. Die wäre erst an seinem einundzwanzigsten Geburtstag im Rahmen einer schmerzhaften Prozedur vollzogen worden. Den Getauften wird das Zeichen der Auserwählten unauslöschlich einge-brannt. Danach ist ein Ausstieg aus der Sekte unmöglich. Einige haben es versucht...
Zur Zufriedenheit seiner Mutter hatte Kai, nachdem er mehr über den Propheten der Sekte erfuhr und auf den Widerspruch zwischen Wort und Tat aufmerksam wurde, zu zweifeln begonnen, hatte sich von der Sekte ab- und ihr wieder zugewandt. Er hätte sich nie taufen lassen. Das weiß sie ganz si-cher. Doch nun, da er tot ist, spielt das keine Rolle mehr.
„Willst du ihn in die Verdammnis schicken?“, fragt Kais Vater aufgeregt. „Ihn verbrennen, das lasse ich nicht zu. Du weißt ja gar nicht, was du ihm damit antust“. Er ist laut geworden und spricht zu ihr in dem arroganten Ton, der sie so aufregt: „Du verstehst das nicht. Noch kann er zu einem Gesandten des Erdgottes, ja, in einer anderen Welt selbst zu einem Gott werden. Wir holen ihn in unsere Gemein-schaft zurück, taufen ihn. Wenn sein Körper verbrannt wird, verbrennt das Zeichen, verbrennt seine Seele. Er existiert nicht mehr.“
Sie weiß zwar, dass es sinnlos ist, über dieses Thema mit ihm zu streiten, doch sie entgegnet trotzig: „Ihr mit eueren Phantastereien. Niemand wird zu einem Gott. Ihr sterbt wie wir. Ob begraben oder verbrannt, das ist völlig gleich.“
Zornig blickt er sie an, doch er beherrscht sich, braucht er doch ihre Zustimmung. „Dann können wir ihn auch im Sarg begraben“, sagt er versöhnlich und fügt hinzu: „Wir übernehmen die Kosten für das Begräbnis.“
„Als käme es darauf an“, wertet sie seinen Vorschlag ab, doch der bringt sie schon zum Nachdenken. Sie weiß ja noch gar nicht, wie sie das Geld für das Begräbnis aufbringen soll. Seit sie allein wirtschaf-ten muss, ist es knapp geworden. Die Anzahlung für das Auto hatte ihre Reserven erschöpft. Von seinem Vater hatte sie für Kai, nachdem der sich von der Sekte abgewendet hatte, keine Unterstüt-zung mehr erhalten. Sie stimmt zwar nicht gern zu, doch unter dem finanziellen Zwang erklärt sie nach einiger Zeit des Zögerns ihr Einverständnis mit einer Erdbestattung.
Er ist befriedigt. „Wir nehmen das in die Hände. Du brauchst dich um nichts zu kümmern“, sagt er zum Abschluss und will ihr tröstend über das Haar streichen. Unwillig wehrt sie es ab. Als er auszog, um in der Sekte in neues Leben zu beginnen, hatte er sie mit ihren Sorgen allein gelassen. Das verzeiht sie ihm nicht.
Die Polizei konnte inzwischen an Hand der Bruchstücke des Scheinwerfers und durch die Lackproben feststellen, um welchen Fahrzeugtyp und welches Produktionsjahr es sich bei dem Unfallauto handelt. Die Umfrage in den Werkstätten, ob dort ein roter Opel Kadett mit Schäden am Scheinwerfer und dem rechten vorderen Kotflügel vorgestellt wurde, verläuft ergebnislos. Also wird aufgelistet, wer im Kreis-gebiet einen solchen Wagen fährt. Nur fünfzehn Besitzer kommen in Frage.
Thomas hat zwar inzwischen gehört, dass an dem Freitagabend ein Radfahrer tödlich verunglückt ist und dass der daran beteiligte Autofahrer flüchtete, doch er ist sich immer noch sicher, dass man ihn nicht finden wird. Er ahnt ja nicht, dass es nur noch kurze Zeit dauern kann, bis die Überprüfung der in Frage kommenden Autos die Wahrheit zu Tage fördern wird.
Zwei Polizisten, die damit beauftragt sind, treffen nur seine Mutter an. Als sie sich nach dem roten Kadett erkundigen, ist sie verwundert, fragt, weshalb sie den Wagen sehen möchten, erhält darauf jedoch keine klare Antwort.
„Er steht hinter dem Haus, unter dem Carport“, gibt sie Auskunft. „Thomas ist beim Einparken an der Säule des Carports angeeckt“, erklärt sie ihnen.
„Vorn rechts?“, fragt einer der Polizisten sofort.
Sie nickt bestätigend.
„Wir finden den Weg“, antworten die Beiden und bedanken sich für ihre Auskunft.
Kopfschüttelnd blickt sie ihnen nach, kann sich den Grund dafür, weshalb sie der Opel interessiert, nicht erklären. „Sollte der Hausbesitzer uns angezeigt haben“, grübelt sie. „Dafür gab es doch gar keinen Grund. Die Säule ist kaum beschädigt worden. Ich habe es ihm ja auch gleich am nächsten Tag gemeldet. Er hat sich den Schaden angesehen und nichts dazu gesagt.“ Sie kann sich wirklich nicht erklären, weshalb die Polizei sich für das Auto interessiert.
Die beiden Polizisten untersuchen inzwischen die Schäden am Kadett gewissenhaft. „Der zerstörte Scheinwerfer könnte ein Indiz dafür sein, dass es das gesuchte Unfallauto ist“, bemerkt der Größere. Sie brechen noch ein paar Splitter heraus. “Es müssten sich doch auch gelbe Farbspuren finden las-sen“, sagt der Kleinere, findet aber nichts. Nun untersuchen sie die Säule des Carports. „Der ist dage-gen gefahren, das steht fest“, konstatiert der Größere. „Er hat die Säule aber nur leicht gestreift“, be-merkt der Kleinere, der dabei ist, von den Schadstellen am Kotflügel des Autos Aufnahmen zu ma-chen. „Wenn er mit dem Scheinwerfer dagegen gefahren wäre, dann müsste die Säule viel stärker beschädigt sein. Wir müssten auch Splitter finden, wenigstens ganz kleine Glassplitter. Vielleicht ha-ben sie die Splitter weggefegt “, überlegt er. Am Boden, nahe der Säule, finden sie einige Splitter des roten Autolackes. „Wenn die Lacksplitter noch hier liegen, dann müssten sich doch auch winzige Split-ter des Scheinwerfers nachweisen lassen, merkwürdig...“.
„Etwas anderes wäre es, wenn der Scheinwerfer gar nicht hier zerbrochen wurde.“ Er geht noch ein-mal ins Haus zu Frau Bucher und bittet sie um Besen und Schaufel. Damit fegt er den Schmutz, der sich in der Umgebung der Carportsäule zwischen den Steinen befindet, zusammen und schüttet ihn eine Plasttüte.
Nun ist die Mutter von Thomas aber doch beunruhigt, kommt herunter und fragt die beiden: „Weshalb tun Sie das? Liegt gegen uns eine Anzeige vor? Der Säule ist doch fast nichts passiert.“
„Noch nicht“, gibt ihr einer der beiden Auskunft. „Wir suchen einen roten Kadett, der in einen Unfall verwickelt war - kaum zweihundert Meter von hier entfernt.“
Vor dem: „Noch nicht!“, erschrickt sie. „Soll das bedeuten, dass sie glauben...“ Sie spricht nicht weiter. Der Schreck verschließt ihr den Mund.
„Nun warten Sie erst einmal ab, was die Untersuchungen ergeben“, versucht der Größere sie zu be-ruhigen und auch der Kleinere nickt ihr aufmunternd zu. „Fahren Sie das Auto?“, wird sie gefragt.
„Ich kann überhaupt nicht fahren“, verneint sie. „Mein Sohn fährt das Auto. Er hat erst vor kurzem seine Fahrprüfung abgelegt und den Wagen gleich am ersten Tag gegen den Pfeiler gesetzt. Ich hatte ihm noch gesagt, er soll mit dem Fahren warten bis zum nächsten Tag, aber Sie wissen ja, wie die Jugend ist.“ Erschrocken hält sie inne, als sie das Aufblitzen in den Augen der beiden Polizisten be-merkt.
„Wann war das genau?“, fragt der Kleinere, der der Chef zu sein scheint.
Sie überlegt: „Warten Sie! Es war am Freitag vor acht Tagen. Thomas hatte sich extra frei genommen. An diesem Tag bekam er seinen Führerschein ausgehändigt“, erklärt sie. „Wir sind sofort zu dem Au-tohändler gelaufen und haben das Auto abgeholt. Ich hatte es schon in der vergangenen Woche ge-kauft. Ja, ich bin ganz sicher, es war am Freitag vor acht Tagen.“
Beide Polizisten sehen sich bedeutungsvoll an, nicken sich zu. „Ja, das war’s erst einmal“, sagt der Kleinere zu ihr. Damit verabschieden sie sich.
Als Thomas von der Arbeit nach Hause kommt, stellt ihn seine Mutter zur Rede: „Sage mal Thomas! Stimmt mit dem Auto etwas nicht? Heute waren zwei Polizisten hier, die sich nach allem Möglichen erkundigt, und den Schaden am Auto ganz genau angesehen haben. Sogar den Staub an der Car-portsäule haben sie zusammen gefegt und mitgenommen. Als ich ihnen sagte, dass du die Karambo-lage mit der Säule am vergangenen Freitag hattest, haben sie sich so komisch angesehen.“
Thomas erschrickt. Sein Gesicht verliert alle Farbe. „Quatsch! Nichts ist!“, erwidert er grob. „Ich bin gegen die Säule gefahren, das habe ich dir doch gesagt. Warum die wegen der Schramme an dem Carport so einen Aufstand machen, weiß ich auch nicht.“ Er wendet sich brüsk ab und geht in sein Zimmer, um weiteren Fragen auszuweichen). In seinen Gedanken herrscht Panik. Hastig greift er zur Zigarette, öffnet das Fenster und blickt auf das Auto hinunter.
„Die können mir doch gar nichts nachweisen“, redet er sich ein. „Niemand hat mich gesehen. Die gel-be Farbe habe ich abgerieben.“ Trotzdem fühlt er sich unwohl, sein Bauch ist verkrampft. Am meisten Sorge bereitet ihm, dass er das Geld für die Reparatur nicht zusammenbringt. Sein Kontostand ist wieder fast auf Null angelangt. Ohne Geld kann er den Schaden nicht beseitigen lassen. Seinen Chef um Vorschuss zu bitten, das hatte er sich nicht getraut. Einer seiner Kumpel würde ihm zwar etwas leihen, doch das reicht nicht. Sich seiner Ohnmacht bewusst, haut er unbeherrscht mit der Faust auf den Tisch, wirft die Kippe seiner Zigarette aus dem Fenster, schaltet das Fernsehgerät ein und lässt sich, ohne seine Schuhe auszuziehen, auf die Liege fallen. Alles sinnlose Protesthandlungen, die, da sie niemand sieht, nichts bringen.
Die Untersuchungen der Lacksplitter und des am Carport zusammengefegten Schmutzes haben den Beweiß erbracht, dass der rote Kadett an dem Unfall beteiligt war. Das heraus gebrochene Stück Scheinwerferglas ist mit den an der Unglücksstelle gefundenen Bruchstücken identisch. Auch die ro-ten Lackteilchen stimmen mit denen am Unfallort überein. An einigen wurden sogar winzige gelbe Farbpartikel entdeckt, die dem Lack des Fahrrades entsprechen. Daraufhin erlässt der Staatsanwalt einen Haftbefehl und Thomas wird zur Vernehmung vorgeführt. Sein anfängliches Ableugnen hilft ihm nicht. Die Beweise sind so eindeutig, dass er, durch Fragen in die Enge getrieben, schließlich zugibt, der Unglücksfahrer zu sein. Im Verfahren spricht ihn der Richter schuldig. Die Strafe, die gegen ihn verhängt wird, fällt gnädig aus. Ihm wird zugute gehalten, dass er ein Geständnis abgelegt, Reue zeigt und wahrscheinlich nach dem Unfall unter Schock gestanden hat.
Der Prophet hat sein Urteil gefällt. In einer „Stunde der Andacht“ verkündet er, dass sie, die Auser-wählten, unantastbar sind. Dass alle Mitglieder der Sekte den Gesetzen der Glaubensgemeinschaft unterliegen und nur sie das Recht hat, das Urteil zu sprechen, weltliches Recht für sie keine Gültigkeit besitzt. Und er schließt: „Wer sich an einem Auserwählten vergreift, hat selbst sein Leben verwirkt, denn wir können nur zu Göttern werden, wenn wir diejenigen vernichten, die sich uns in den Weg stellen.“ Obwohl er keinen Namen nennt, wissen alle, wer gemeint ist.
In einer feierlichen Zeremonie nehmen sie die Seele Kais in ihre Mitte auf, verkünden es später an seinem Grab und legen das Zeichen der Sekte auf seinen Sarg. Niemand wagt, sie daran zu hindern.
„Dieser Verbrecher hat sich meinem Jungen in den Weg gestellt“, das geht Kais Vater nicht mehr aus dem Sinn. Es erfüllt ihn mit fanatischem Hass. „Da er das Urteil selbst nicht mehr vollstrecken kann, muss ich es für ihn tun“, nimmt er sich vor. Seit diesem Tag fühlt er sich schuldig. Deutlich spürt er die vorwurfsvollen Blicke der anderen Sektenmitglieder. „Sie erwarten von mir, dass ich für Kai den Weg frei mache. Ich muss den Stein des Anstoßes beseitigt, sonst finde ich keine Ruhe mehr.“
Da Thomas nach der Verbüßung seiner Strafe keine Arbeit finden kann, wer stellt schon einen Vorbe-straften ein, geht er oft hinaus zum Waldteich, um dort zu angeln. Im Schilf verborgen hockt er stun-denlang, grübelt, hadert mit seinem Schicksal.
Als er eines Tages am Abend nicht nach Hause kommt, wird seine Mutter unruhig. Die halbe Nacht wartet sie, dann geht sie zu Bett, lässt aber die Tür zum Schlafzimmer offen stehen. Sie schläft unru-hig, wacht immer wieder auf. Geht dann ins Kinderzimmer, um nachzusehen. Als er auch am Morgen nicht erscheint, meldet sie sein Ausbleiben der Polizei. Die Beamten nehmen ihre Vermisstenmeldung zwar auf, wollen jedoch noch bis zum nächsten Tag warten, bevor sie eine teure Suchaktion einleiten.
„Er hat doch sein Angelzeug mitgenommen“, überlegt seine Mutter. Nachdem Thomas auch am Mittag noch nicht nach Hause gekommen ist, geht sie selbst hinaus zum Waldteich, um nach ihm zu suchen. Ziellos läuft sie am Ufer entlang. Sie kennt ja den Platz nicht, an dem er auf die Fische lauert. Schon will sie aufgeben, als sie einen schmalen Steg entdeckt, der in das Schilf hinein führt. Mit klopfendem Herzen bleibt sie stehen, zögert...
„Ich muss nachsehen!“, sagt sie sich und folgt dem Pfad. Der Boden ist feucht und es schmatzt, wenn sie auftritt. In ihren Trittspuren sammelt sich Wasser. Trotzdem geht sie weiter. Dort, wo das Schilf endet, das Land zum freien Wasser abfällt, hat jemand aus Holzstangen einen Sitz gebaut. Dort steht auch der Behälter, in dem Thomas sein Angelzeug verstaut.
Mit vor Schreck aufgerissenen Augen sucht sie die Umgebung ab. Nichts! Erst leise, dann immer lau-ter, schließlich mit gellender Stimme, ruft sie nach Thomas. Doch er antwortet nicht. Schon will sie, vom Entsetzen gepackt, davonlaufen, da bemerkt sie das im Wasser schwimmende Netz, in dem Thomas die gefangenen Fische eine Zeit lang aufbewahrt. Sie zieht es heraus, zwei Fische zappeln darin.
„Er muss noch hier sein! Warum ist die Angel nicht zu sehen?“ Einige Meter vom Ufer entfernt sieht sie die Pose auf dem Wasser schwimmen. Eine fürchterliche Ahnung beschleicht sie. „Die Angel liegt im Wasser. Er ist hinein gestürzt und kann doch nicht schwimmen.“ Von Angst getrieben hastet sie den Weg zurück.
Jetzt nehmen sie auf dem Revier ihre Beobachtungen ernst. Die Feuerwehr wird alarmiert und es werden Taucher angefordert, die den Grund des Teiches absuchen sollen. Am nächsten Tag finden die den Toten. Er hatte sich in den überall im Teich wuchernden Schlingpflanzen verheddert.
Die eingeleiteten Untersuchungen fördern keinen Verdacht auf ein Verbrechen zu Tage. Thomas ist ertrunken. Es war ein tragischer Unfall. Kais Vater aber, der genießt seitdem wieder die Achtung der Auserwählten.

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