Donnerstag, 14. Mai 2009
Die Windberg SAGA
‚Manche Abendteuer klingen zu phantastisch, als dass man glauben könnte, sie seien wirklich geschehen; sie später für einen Traum hält. Von einem solchen will ich berichten und du, lieber Leser, wirst daran Teil haben. Du bist skeptisch? Das ist dein gutes Recht. Trotzdem, vielleicht nimmst du dir die Zeit, begleitest mich und machst dir deine eigenen Gedanken über das, was mir widerfährt.’
Alles nahm mit einem Artikel und einem Bild in der Sächsischen Zeitung seinen Anfang. Wie in jedem Jahr wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Zeit der Pilzfreunde begonnen hat. Das abgebildete Prachtexemplar eines Steinpilzes, am Südhang des Windberges gefunden, gab den Ausschlag dafür, dass ich mich entschloss, selbst auf Suche zu gehen. Obwohl sich an den folgenden Tagen das Wetter verschlechtert, ein schweres Gewitter tobt, ein mächtiger Sturm wütet, am Sonnabendmorgen noch immer dunkle Regenwolken am Himmel hängen, ziehe ich mit Korb und Messer ausgerüstet los, um mein Glück zu versuchen. Beim „Alten Rathaus“ überquere ich die Poisentalstraße, steige dann den ausgefahrenen Weg hinauf, der, am letzten Haus vor dem Wald vorüber, in einer Schlucht zum Kamm des Windberges führt. In der Gartenanlage werkeln bereits die ersten Frühaufsteher, doch sie schenken mir keine Beachtung. Etwas weiter oben kenne ich einen schmalen Steg, der nach rechts in den Wald abzweigt und, am Südhang des Windberges entlang, allmählich aufwärts führt. Ihm folge ich ein Stück. Vom Haselstrauch schneide ich einen handlichen Stock zurecht, der mir beim Klettern am Hang Halt geben und beim Pilze aufspüren helfen soll.
„Nun musst du wissen, dass Pilze suchen nicht gerade eine Sache ist, bei der ich in der Vergangenheit besonders viel Glück hatte. Aber für mich ist ja auch das im Wald Herumstrolchen die Hauptsache.“
Fast eine Stunde lang klettere ich den Hang hinauf und wieder herunter, stolpere über Steine, rutsche auf dem nassen Gras aus, stochere mit dem Haselstock unter den überhängenden Zweigen kleiner Fichten, sehe mich nach Birken um, da könnten Birkenpilze stehen, finde mal einen Champignon, mal einen Reizker, dann ein paar Braunkappen. Alles nicht der Rede wert. Schließlich lassen mir ein paar herrliche Steinpilze das Herz schneller schlagen. Doch als ich den ersten abgeschnitten habe, belehrt mich sein rosa Futter und sein Geschmack, dass es Bitterpilze sind. Ich bin enttäuscht!

„Du wärst es bestimmt auch gewesen, hättest du sie gefunden, so schön, wie die von weitem aussahen.“
Dann versperrt mir eine mächtige, nieder gebrochene Buche den Weg. Sie ist wahrscheinlich dem Orkan der letzten Woche zum Opfer gefallen. Unmittelbar vor einer zwei Meter hohen fast senkrechten Felswand hatte sie gestanden. Da hier am Hang die Humusschicht nicht sehr stark ist, wurde sie, samt den Büschen, die auf ihr wuchsen, von dem weit verzweigten Wurzelstock der Buche hoch gerissen. Wollte ich sie umgehen, müsste ich weit den Hang hinunter steigen. Also suche ich nach einem Durchschlupf, finde ihn zwischen der Felswand und dem jetzt steil aufragenden Wurzelstock. Wurzeln greifen nach mir, weigern sich, Platz zu machen, zerren an meiner Regenjacke, beschmutzen mich. Ich schmiege mich eng an die Felswand. Daher sehe ich sie, die alten Meißelspuren, schon verwittert, doch aus der Nähe noch deutlich erkennbar. ‚Diese Felswand ist keine natürlich entstandene, sondern eine von Menschenhand geschaffene.’
„Bist du neugierig geworden? Was meinst du, aus welchem Grund sie das damals gemacht haben könnten? Sie wollten einen Stollen in den Berg treiben? Meinst du, sie haben nach Silber gesucht? Könnte sein. Solche Suchstollen gibt es in der Umgebung an vielen Stellen. Dann müsste der Eingang zu finden sein.“
Ich blickte mich um, suche... Nirgendwo ist eine Öffnung zu sehen. ‚Vielleicht haben sie ihr Vorhaben aufgegeben? Kann auch sein, klar. Trotzdem!’ Direkt am Fuß der Wand hat sich im Laufe der Zeit Geröll angehäuft, dass nun von seiner Deckschicht entblößt ist. ‚Sollte darunter...?’ Neugier packt mich und ich beginne, trotz der sperrigen Wurzeln, und des einsetzenden Regens, den oberen Teil hinweg zu räumen.
„Mach das mal ohne Werkzeug, nur mit einem Haselstock als Ersatz. Das ist vielleicht eine Quälerei, sage ich dir!“
Im Eifer quetsche ich mir die Finger, fluche was das Zeug hält, grabe aber weiter.
„Siehst du, wir hatten recht mit unseren Überlegungen!“
Unter dem Schutt tut sich in der Felswand tatsächlich ein Loch auf. ‚Könnte es das Mundloch eines Schachtes sein?’ Von diesem Gedanken angespornt, der wunden Finger nicht achtend, räume ich noch mehr von dem Geröll weg, kann die Öffnung etwas vergrößern, blicke hinein, stochere mit dem Haselstock darin herum, horche... Nichts! Nur Finsternis und Stille. Ein Stein, den ich hinein rollen lasse, verschwindet mit leisem Grollen, das aber bald verstummt.
„Was machen wir nun? Mit der Taschenlampe, meinst du? Habe ich aber nicht, nur mein Feuerzeug. Geht auch? Gut, ich versuche es.“
Ich sehe nichts. Die Flamme blendet mich, doch sie flackert auf mich zu. Aus dem Loch in der Wand weht mir ein Luftzug entgegen. Es riecht dumpf nach Erde und Verwesung.
„Dann muss es sich um einen Stollen handeln, der mit weiteren in Verbindung steht. Das würdest du an meiner Stelle doch auch vermuten, oder? Ist ja auch logisch; denn in einem nur kurzen Suchstollen könnte kein Luftzug entstehen. Vielleicht ist es der Luftschacht eines tiefer gelegenen Stollensystems? Das wäre ein Ding!“
Ohne richtiges Werkzeug weiter zu graben macht keinen Sinn und meine Finger sind von den bisherigen Bemühungen schon arg lädiert. Vorsorglich verschließe ich das Loch mit ein paar großen Steinen, tarne es mit Reisig.
„Diese Entdeckung wird vorerst unser Geheimnis bleiben! OK?“
Da der Regen heftiger wird, ich nichts mehr ausrichten kann, gehe ich nach Hause. Zum Pilze suchen habe ich jetzt keine Muße mehr, muss erst einmal darüber nachdenken, was ich unternehmen werde. Allein in den Stollen einzudringen reizt mich zwar, doch es wird schwierig sein, es kann gefährlich werden. Trotzdem! ‚Ich muss herauszufinden, ob es sich tatsächlich um das Mundloch eines größeren Stollens handelt.’ Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los. Nachts träume ich bereits davon, mache dort unten grausige Entdeckungen, begegne Fabelwesen und finde sogar einen Schatz. Obwohl ich weiß, dass es nur Träume sind, beeinflussen sie mein Denken, fördern den Entschluss, erst einmal allein in die geheimnisvolle Finsternis vorzudringen, wenigstens ein Stück. In Gedanken stelle ich zusammen, was ich brauchen würde, für den Fall, dass ich wirklich allein... Im Internet finde ich die Bauanleitung für ein Gerät, mit dem man prüfen kann, ob der Sauerstoffgehalt zum Atmen ausreicht und ob gefährliche Konzentrationen brennbarer Gase vorhanden sind. Das baue ich nach, teste es in einem Einweckglas und über einem Propangaskocher. Im Haus der Heimat suche ich nach Material über die alten Bergwerksstollen und finde Hinweise auf einen Artikel, der sich damit befasst, kann den schließlich im Netz aufstöbern. Der Verfasser schildert den Bergbau der damaligen Zeit und deutet an, dass damals ein Silberschatz im Berg verborgen worden sei.
„Na, was sagst du dazu? Könnte das nicht spannend werden? Vielleicht finden wir den.“
Leider gibt es keine weiteren Hinweise darauf.
„Du kennst doch bestimmt das Mundloch des Stollens hinter dem Schloss? Weißt du, dass es auch im Poisental, am Fuß des Windberges, einen solchen gibt? Warum dann nicht auch oben bei der Buche? Es könnte doch sein, dass sie gerade dort...“
Wie dem auch sei, nun bin ich fest entschlossen, den Erkundungsversuch zu unternehmen. Eine Woche später habe ich alles beisammen und im Rucksack verstaut. Sehr früh am Sonnabendmorgen mache ich mich auf den Weg. Da mir das Unternehmen doch ein wenig unheimlich vorkommt, habe ich vorsorglich eine E-Mail an die Rettungsstelle vorbereitet. In ihr schildere ich mein Unternehmen und beschreibe darin, wo sich der Eingang des Stollens befindet; auch dass ich seit Sonnabend allein in dem Stollen unterwegs bin. Sollte ich bis Sonntagabend nicht zurück sein, und sie wieder löschen, wird sie automatisch zugestellt. ‚Man wird mich suchen’, davon gehe ich aus und auch davon, dass ich bis dahin durchhalte, falls ich in Not geraten sollte. Es folgt eine unruhige Nacht . Lange bevor das erste Tageslicht die Dunkelheit verdrängt, verlasse ich das Haus, mache mich auf den Weg. Kaum ein Fenster ist erleuchtet, die Straßen sind menschenleer. Nur an der Poisentalstraße treffe ich einen Betrunkenen, der torkelnd und vor sich hin brabbelnd offensichtlich Schwierigkeiten hat, den Heimweg zu finden. Das erste Stück des Weges hinauf zum Windberg wird noch vom Schein der Straßenbeleuchtung erhellt. Später ist es so finster, dass ich den Weg nur noch erahnen kann. Um den Abzweig in den Wald zu finden, schalte ich die neue Lampe ein paar Mal für kurze Zeit ein und bin von ihrem Licht begeistert. Sonst vermeide ich es, um niemanden auf mich aufmerksam zu machen.
„Hast recht, das kann übertriebene Vorsicht sein. Doch ich möchte nicht, dass mich jemand bemerkt.“
Im Wald ist es unheimlich. alle Sinne stehen auf Empfang, registrieren jedes Knacken, jedes Knistern. Das Rascheln des Laubes, das Aufblitzen der Sterne zwischen den Blättern der Bäume, den Geruch des noch ruhenden Waldes.
„Warst du schon einmal nachts allein im Wald unterwegs? Ja? Dann kannst du nachfühlen, wie mir zumute ist.“
Weil ich es vermeide, die Lampe zu benutzen, stolpere ich über im Dunkeln verborgene Wurzeln und Steine. Vorsichtig, den schmalen Pfad mehr ertastend als erkennend, bewege ich mich auf mein Ziel zu.
Allmählich ändert sich die Farbe des Himmels. Wenn ich empor blicke, zeichnen sich Blätter und Äste bereits schwach gegen den dunkelblauen Hintergrund ab. Ich gehe etwas schneller und pralle prompt gegen einen Baumstamm, um den der Steig einen Bogen schlägt. Nun schalte ich doch die Lampe ein, will ja auch die knorrige Eiche finden, die ich mir als Wegzeichen dafür gemerkt habe, wo ich den Hang hinaufsteigen muss. Die Eiche finde ich, aber nach der Buche suche ich lange vergebens. ‚Im Dunkeln sieht eben alles ganz anders aus, als man es vom Tag her in Erinnerung hat.’
„Was glaubst du, wie ich zusammenzuckte, als direkt vor mir ein Vogel laut kreischend aufflattert.“
Mein Herz schlägt rasend schnell. Ich verharre eine Zeit lang, bis es sich beruhigt. Schon habe ich mich entschlossen, wieder zu der Eiche zurückzukehren, um von da aus einen zweiten Anlauf zu unternehmen, da taucht vor mir der bläulich-silbern schimmernde Stamm der Buche im Licht meiner Lampe aus dem Dunkel auf. Nun bereitet es keine Schwierigkeiten mehr, nach oben zu steigen und mich zwischen der Felswand und dem fast senkrecht stehenden Wurzelstock hindurch zu zwängen.
Warten! Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, bis das Tageslicht kräftig genug sein wird, um bis zum Boden des Waldes vorzudringen. ‚Es ist romantisch, aber auch ein bisschen unheimlich, allein hier in dem dunklen Wald zu sitzen. Früher, als Kind, hätte ich in einer solchen Situation wahrscheinlich laut gesungen oder gepfiffen, um meine Angst zu unterdrücken.’ Den Rücken gegen den Rucksack gelehnt, hocke ich im taunassen Gras. Noch ist es dunkel und still.
„Kennst du diese feierliche Stimmung?“
‚ Mir ist gerade, als befände ich mich in einem großen Dom. Über mir thront, dort wo die Krone der gefallenen Buche im Blätterdach eine kreisrunde Lücke hinterlassen hat, die dunkelblaue Himmelskuppel. An ihren Rändern schon erhellte Schäfchenwolken ersetzen die von Menschen ersonnenen Heiligenbilder. Nicht mit Orgelklang, nicht mit einem Choral, mit dem ersten Triller eines frühen Vogels beginnt in diesem Dom die Musik. Andere antworten und nach nur wenigen Minuten vereinigen sich ihre Stimmen zu einem Jubelchor, mit dem sie den neuen Tag begrüßen.’ Aus dem Poisental herauf dröhnt der Autos röhrender Bass, von den Gleisen der Bahn das Chorgesumm der Räder eines Zuges zu mir herauf. Langsam sickert Licht durch das Laubdach, gleitet an den Stämmen herab, gibt ihnen Form, ergänzt mit mächtigen Säulen das Bild des Domes. Ich bin fasziniert von diesem Erlebnis, was für kurze Zeit sogar die Gedanken an mein Vorhaben verdrängt. Bald zerstört zunehmende Helligkeit den nur in der Dunkelheit des Waldes existierenden Schleier des Geheimnisvollen. Entzaubert wende ich mich wieder meinem eigentlichen Ziel zu, finde fast alles so, wie ich es vor zwei Wochen verlassen hatte. Nur das Strauchwerk, das den Stolleneingang verdecken sollte, ist vertrocknet. Das räume ich beiseite, entferne die großen Steine und dokumentiere den Hang, die Meißelspuren und die Öffnung, hinter der ich den Stollen vermute, mit meiner Digitalkamera. Es ist mühsame und anstrengende Arbeit, das Loch zu erweitern. Der Eingang ist von Geröll verschüttet, das sich über viele Jahre wie eine Rampe vor der Felswand aufgehäuft hat. Mühsam kratze ich mit dem angewinkelten Spatenblatt Erde und Steine heraus. Immer wieder muss ich eine Pause einlegen. Endlich ist die Öffnung so groß, dass ich den Kopf hineinstecken kann. Ich leuchte mit der Taschenlampe. Der Stollen läuft oben spitz zu, das Gestein glänzt feucht, Wasser tropft von der Decke, der Taschenlampe Schein verliert sich irgendwo in der Finsternis. Wieder spüre ich deutlich den Luftzug, der mir aus der Tiefe des Berges entgegen weht. Ich grabe weiter, muss wenigstens soviel von dem Geröll beseitigen, dass ich, auf dem Bauch liegend, hineinkriechen kann. Nach zwei Stunden habe ich den Durchschlupf endlich so erweitert, dass sich ein Versuch lohnt. Erst treffe ich noch Vorkehrungen, die verhindern sollen, dass meine Bemühungen nicht sofort bemerkt werden, falls jemand, vielleicht auch ein Pilzsucher, hier entlang kommen sollte. Das heraus gekratzte Geröll verteile ich am Hang. Danach suche ich Sträucher zusammen und lege sie so neben die Öffnung, dass ich sie davor ziehen kann, nachdem ich eingestiegen bin. Auch das ist endlich geschafft. Jetzt brauche ich noch etwas, um das Sicherungsseil daran zu befestigen. Ein Ast, quer vor den Einstieg gelegt, erfüllt diesen Zweck. Misstrauisch blicke ich mich um, bin aufgeregt, versuche mich zur Ruhe zu zwingen. Mir darf kein Fehler unterlaufen, denn sobald ich in den Stollen eindringe, bin ich allein auf mich gestellt.
„Du wirst entweder sagen, dass es „geil“ ist, oder du bist skeptisch; je nach dem, ob du noch jung oder schon weise bist.“
Noch einmal beleuchte ich den zum Teil freigelegten niedrigen Gang, krieche ein Stück hinein. Der Stollen könnte etwa achtzig Zentimeter breit und etwas über einen Meter hoch sein, schätze ich. ‚Ich werde gebückt gehen müssen, was das Vorwärtskommen sehr erschweren wird.’ Trotz aller Bemühungen kann ich nicht erkennen, ob die Sohle des Stollens waagerecht verläuft oder vielleicht steil in die Tiefe führt. Das werde ich erst erfahren, wenn ich ein Stück hinein gekrochen bin. Um sicher zu gehen, dass die Luft auch ausreichend Sauerstoff zum Atmen enthält, zünde ich die Flamme meines Feuerzeuges an. Sie flackert im Luftzug, brennt aber hell, ein gutes Zeichen. Wieder fällt mir dieser eigenartige faulige Geruch auf, dessen Herkunft ich mir nicht erklären kann. Mir wird schwindlig...
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Auf dem Bauch liegend, mit den Füßen voran, schiebe ich mich langsam in den niedrigen Gang hinein. Den Ast für das Seil habe ich quer vor den Eingang platziert, die an der Seite bereit liegenden Zweige vor das Loch gezerrt und hoffe, dass es dadurch ausreichend getarnt wird. Der Rucksack mit den Utensilien liegt so vor mir, dass ich ihn nachziehen kann. Die Lampe ist aufgeladen und am Helm befestigt, dadurch habe ich die Hände frei. Nun mag das Abenteuer beginnen... Vorsichtig, noch zögernd, krieche ich rückwärts. Krampfhaft halte ich mich am Seil fest, rutsche langsam bäuchlings auf dem losen Geröll nach unten. Der Boden ist schmierig. Wasser tropft mir in den Nacken. Ich weiß nicht, was mich erwartet, wende immer wieder den Kopf nach hinten, um etwas zu erkennen und sehe doch stets nur dieses schwarze Loch. Endlich gelange ich auf die Sohle des Stollens und stelle erleichtert fest, dass die waagerecht verläuft. ‚Mist! In der Aufregung habe ich den Rucksack vergessen. Er liegt noch oben am Eingang. Ich muss noch einmal hinauf, um ihn zu holen.’ Jetzt bewährt sich das Seil. Erneut auf der Sohle des Stollens angekommen, gehe ich in die Hocke und beleuchte erst einmal meine nähere Umgebung. Die bogenförmig ausgebildete Decke des Stollens scheint stabil zu sein. Nur ganz wenige kleine Bruchstücke liegen auf dem Boden. Allerdings tropft es überall von ihr herunter. Die Wände sind glatt, zeigen noch die Spuren der Meißel. Den Boden bedeckt ekelig schlüpfriger Matsch. Ich muss vorsichtig sein, um darauf nicht auszugleiten. Es ist ein bedrückendes Gefühl, hier in den engen, nassen und finsteren Stollen eingeschlossen zu sein. Ich bin ehrlich und gestehe mir ein, dass ich vor dem Kommenden schon Angst habe.
„Doch weißt du, Angst ist in einer solchen Situation ein ganz normales Gefühl, das dem Schutz des Lebens dient.“
So weit ich sehen kann, verläuft der Stollen fast waagerecht. Das Seil ziehe ich nach, lege es zusammen und hänge es mir schräg über die Schulter. Ein Ende binde ich am Rucksack fest, so dass ich ihn hinter mir herziehen kann, die Hände frei habe. Ohne auf Hindernisse zu stoßen dringe ich vor; nur die gehockte Haltung strengt an.
„Was sagst du nun? Du schweigst?“
Das Licht meiner Helmleuchte reicht nur wenige Meter, dahinter starrt mich die Finsternis böse an. ‚So lange der Stollen waagerecht in den Fels hinein führt, besteht ja keine Gefahr.’ Angespannt lausche ich... Nur das Geräusch von der Decke herab fallender, platschend aufschlagender Wassertropfen ist zu hören. Hier in dieser sonst völligen Stille klingt das übermäßig laut. In Hockstellung watschle ich Schritt für Schritt vorwärts. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigt, dass seit dem Einstieg bereits über eine Stunde vergangen ist. Ich weiß es nicht genau, doch nach meiner Schätzung müssen es etwa vierzig Meter sein, die ich bisher, recht mühsam, bewältigt habe. Durch die ungewohnte Haltung schmerzen meine Beine. Wasser klatscht auf mich herab, läuft mir übers Gesicht und in den Nacken. Auf dem Boden fließt ein flinkes Rinnsal. ‚Also hat er ein schwaches Gefälle und irgendwo muss es einen Abfluss geben.’ Da! Nach einer Biegung führt der Stollen plötzlich in die Tiefe. Nicht senkrecht, nein, nur mit mäßigem Gefälle. Doch durch den schmierigen Untergrund könnte auch das zu einem Problem werden. Ich überlege, will erst das Sicherungsseil verwenden, komme dann aber zu dem Schluss, dass es nicht nötig ist. ‚Wenn ich mich setze, mit Füßen und Händen abstütze, kann ich bestimmt langsam hinunter rutschen.’
Du meinst, dass das leichtsinnig ist? Kann schon sein. Ach was, ich riskiere es.“
Jetzt müssen sich Arschleder und Lederhandschuhe bewähren. Den Rucksack, immer noch am Seil festgebunden, hinter mir herziehend, setze ich mich auf den Boden, stelle die Stiefelsohlen fest auf und stütze mich zusätzlich mit den Händen seitwärts ab.
„Skeptisch? Du wirst sehen: Es geht.“
Vorsichtig und ganz langsam rutsche ich in die Tiefe ‚Diese verdammte Finsternis belastet mich. Bereits wenige Meter vor mir wird sie unheimlich, weil ich nicht sehen kann, was mich dort erwartet.’ Immer öfter lege ich eine Pause ein, sage mir, dass schon alles gut gehen wird, hoffe es. Dann passiert es doch! Es beginnt damit, dass der Rucksack sich irgendwie verhakt. Er hängt fest. Ich ziehe am Seil. Erst vorsichtig, dann, ungeduldig werdend, kräftiger, schließlich mit einem energischen Ruck. Das wird mir zum Verhängnis. Der Rucksack kommt frei, schießt auf mich zu, prallt gegen meinen Rücken und gibt mir einen Stoß, der mich auf dem nassen klitschigen Grund unaufhaltbar nach unten rutschen lässt. Entsetzt schreie ich auf, mache mich lang, strecke die Beine aus. Ich weiß ja nicht, was da vor mir ist, will mich damit instinktiv gegen einen harten Aufprall schützen. Im Lichtkegel meiner Lampe rast die Decke des Stollens wie auf einem Bildschirm über mir hin. Als ich versuche mich seitlich abzustützen finde ich keinen Halt, verstauche mir die Hand. Ein paar Mal holpere ich sehr schmerzhaft über Unebenheiten hinweg. Zum Glück hält mein Schutzanzug. Das Ganze dauert nur wenige Sekunden, doch die kommen mir wie eine Ewigkeit vor. So plötzlich wie sie begonnen hatte, endet die Rutschpartie. Erst einmal bleibe ich liegen, atme auf, bin froh darüber, dass ich nicht in einen Schacht gestürzt bin, bedanke mich bei meinem Schutzengel. Vorsichtig bewege ich Arme und Beine, stelle erleichtert fest, dass ich nicht ernsthaft Schaden genommen habe. Nur mein während des Herunterrutschens geprellter Rücken schmerzt und das rechte Handgelenk tut weh. Der Rucksack liegt unschuldig neben mir.
„Du hattest recht. Verdammt, warum war ich so leichtsinnig? Warum habe mich nicht mit dem Seil gesichert?“
Diese Fragen stelle ich mir, jetzt, wo es zu spät ist. Vorwürfe helfen nicht. ‚Nur, ein zweites Mal darf mir ein solcher Fehler nicht passieren.’ Mich umschauend stelle ich fest, dass ich in einer runden Kammer gelandet bin. Sie misst gut drei Metern im Durchmesser und ist hoch genug, um darin stehen zu können. Mühsam, stöhnend richte ich mich auf, leuchte die Kammer aus. Hinter mir grinst höhnisch der Stollen, durch den ich so überstürzt herunter gekommen bin. Zwei Gänge führen weiter. Einer geht steil in die Tiefe, der andere verläuft fast waagerecht. Als ich den näher untersuche, muss ich feststellen, dass darin, gar nicht weit von der Kammer entfernt, die Decke herunter gebrochen ist, ihn dadurch für mich unpassierbar gemacht hat.
„Siehst du, so ergeht es einem, wenn man leichtsinnig ist. Lasse es dir eine Lehre sein.“
Ich könnte umkehren, doch zurück kann ich nicht mehr - selbst wenn ich wollte. Der schräge Schacht, durch den ich herunter gekommen bin, ist so schlüpfrig, dass ich in ihm keinen Halt finden würde, um wieder hinauf zu steigen. ‚Hätte mich eben doch mit dem Seil sichern sollen - ich Esel!’ Meine Hände zittern. Ich muss jetzt vor allem Ruhe bewahren, überlegen, was zu tun ist.
„Wie denkst du über die Sache? Was würdest du an meiner Stelle tun? Ich weiß ja, dass du nichts sagen kannst, aber immerhin, überlegen können wir.“
Eigentlich ist die Entscheidung ganz einfach. Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten. Hier warten, bis man mich herausholt, was lange dauern wird und blamabel ist, oder noch tiefer in den Berg eindringen, um dann vielleicht doch irgendwo einen Ausgang zu finden. Der Luftzug, den ich gespürt habe, der muss ja von draußen kommen. ‚Vielleicht gibt es eine Verbindung zum Segen-Gottes-Schacht? Wer weiß?’ Als ich das Feuerzeug in den verschütteten Stollen halte, brennt seine Flamme ganz ruhig, flackert nicht. Mein Glück, denn wäre die Luft von dort gekommen, dann würde das Hinabsteigen in den steil abfallenden Schacht zu einem unkalkulierbaren Risiko. Nun halte ich das Feuerzeug über diesen Schacht. Nicht sehr, doch ein wenig flackert die Flamme. Auch kann ich wieder den Luftzug spüren, der jetzt aus der Tiefe herauf kommt.
„Siehst du, da unten muss es eine Verbindung zur Außenwelt geben. Die werde ich finden!“
‚Doch, wie komme ich hinunter?’ Noch weiß ich nicht einmal, wie tief dieser Schacht ist, ob mein Seil ausreicht. Es könnte ja auch sein, dass unten Wasser steht, denn das Rinnsal verschwindet darin. Aus dem verschütteten Stollen hole ich einen faustgroßen, einigermaßen runden Brocken und lasse ihn in den Schacht fallen. Das Geräusch, das er verursacht, bricht sich an den Wänden. Nach etwa zwanzig Sekunden verstummt es. Hatte er den Grund schon erreicht, oder dringt das Geräusch nur nicht mehr bis zu mir herauf? ‚Ins Wasser ist er nicht geplumpst, das hätte ich gehört. Vielleicht ist der Grund schlammig, der Stein lautlos darin verschwunden?’
„Überlegen wir mal, ob wir aus der Zeit, die der Stein bis zum Grund gebraucht hat, die Tiefe des Schachtes ableiten können. Ich schätze, dass er bei dem steilen Verlauf des Schachtes bestimmt einen Meter pro Sekunde zurückgelegt hat. Dann könnte der Schacht zwanzig Meter tief sein. Das Ergebnis ist zu unsicher, meinst du? Ich sollte mir etwas besseres überlegen? Hast ja recht. Meine Kalkulation war nicht so gut.“
Erst einmal nehme ich einen Schluck aus der Wasserflasche und stecke mir zwei von den Traubenzuckertafeln in den Mund. ‚Wie könnte ich die Tiefe dieses unheimlichen Schachtes wirklich feststellen und auch, was mich da unten erwartet?’ Wenn ich mit der Lampe hineinleuchte, erkenne ich, dass er anfangs fast quadratisch ist, aber bereits nach wenigen Metern zur runden Röhre mit einem Durchmesser von etwa achtzig Zentimetern wird. Mir fällt ein, wie die Seeleute die Wassertiefe bestimmen. ‚Mit einem Lot - na klar, so werde ich es auch machen, am Seil einen Stein befestigen, und den in den Schacht hinunter lassen.’ Nach einigen Versuchen gelingt es mir, einen Brocken so in ein Ende des Seiles einzubinden, dass er nicht herausrutschen kann. Nun starte ich das Experiment...
Ganz langsam verschwindet der Stein in der Tiefe. Als schwierig erweist es sich, die Länge des Seiles genau zu bestimmen. Ich versuche Meterstücke abzugreifen. Nach dreißig Metern lässt der Zug nach. Das bedeutet, dass der Stein den Grund erreicht haben muss. ‚Aber wie ist der Grund beschaffen?’ Ich ziehe das Seil wieder um zwei Meter hoch, halte es eine Zeit lang und lasse es plötzlich frei. Dumpfes Poltern ertönt aus der Tiefe. Noch einmal das gleiche Experiment. Wieder das Poltern. ‚Der Grund scheint fest zu sein. ‚Nur, warum ist dann der erste Stein so lautlos verschwunden? Wenn der Schacht dreißig Meter tief ist, reicht mein Seil nicht. Ein einfacher Strang ja, doch dann kann ich es nicht mehr nachziehen, müsste das Seil zurück lassen.’ Meine Lage würde immer schwieriger. ’Verdammt! Warum habe ich mich nur auf dieses Unternehmen eingelassen. Ein Glück, dass ich in der Email genau geschildert habe, wo sich der Eingang des Stollens befindet.’ Damit tröste ich mich und dränge die Panik zurück, die mich erfassen will. Wieder überlege ich, ob ich hier auf Hilfe warten sollte? Nein, so leicht werde ich nicht aufgeben. Ein Hoffnungsschimmer blitzt auf. ‚Es könnte ja sein, dass ich mich durch das bloße Abgreifen der Meterstücke beim Hinunterlassen des Seiles vermessen habe.’
„Ich soll das Seil doppelt legen und so genau fünfundzwanzig Meter abmessen, meinst du? Genau, das ist es.“
Also hole ich das Seil zurück, lege die beiden Enden zusammen und ziehe das klitschige, nun doppelte Seil durch meine Hand, bis ich seine Mitte finde. Diesen Punkt markiere ich durch eine Schlaufe und lasse danach den Stein noch einmal in den Schacht hinunter. Alle Hoffnung setze ich auf das Ergebnis dieser Messung. Als ich mich der Mitte des Seiles nähere, halte ich den Atem an... Da lässt der Zug nach, obwohl noch gut zwei Meter des Seiles übrig sind. ‚Beim ersten Versuch hatte ich also die Seilmeter zu kurz abgegriffen.’ Ich atme auf. ‚Als erstes werde ich den Rucksack hinunter lassen.’ Schon habe ich das Seil durch die Öse des Rucksackes gezogen und will ihn in den Schacht versenken, da schreckt mich ein Gedanke auf: ‚Wenn nun der Schacht enger wird, was dann? Wenn ich irgendwo stecken bleibe? Weder vor noch zurück kann?’ Ich leuchte in den Schacht, doch schon nach wenigen Metern kann ich nichts mehr erkennen. ‚Ohne sicher zu sein, dass der Schacht auf seiner ganzen Länge weit genug ist, ich nicht Gefahr laufe, hängen zu bleiben, kann ich da nicht hinunter steigen’, das ist mir klar. Ich muss ihn Meter für Meter ausleuchten. Das ist die einzige Möglichkeit, um sicher zu sein, dass er für mich passierbar ist. Aber die Lampe wie den Stein anbinden, das bringt nichts. Sie würde hin und her pendeln, würde vielleicht beschädigt werden. Das darf auf keinen Fall geschehen. Nach einer Reihe vergeblicher Versuche befestige ich sie so auf dem angewinkelten Spaten, dass sie wie auf einem Schlitten nach unten gleitet, schräg nach vorn strahlt und den Schacht Stück für Stück ausleuchtet. Ich vergewissere mich nochmals, dass die Befestigung des Seiles am Spatengriff hält, denn ohne meine Lampe bliebe mir nur noch das Feuerzeug.
„Kannst du dir vorstellen, wie mir in dem Moment zumute ist?“
Mein Bauch krampft sich zusammen, ich zittere vor Anspannung, mein Herz trommelt, der Hals ist wie zugeschnürt. Ganz vorsichtig lasse ich die Lampe ein Stück hinunter. Es funktioniert. Sie leuchtet ihn aus. Ich würde erkennen, wenn er irgendwo eingeengt wäre. Ein paar Mal muss ich die Lampe wieder ein Stück nach oben ziehen, genauer nachsehen. So dauert es ziemlich lange, bis sie den Grund erreicht. Zum Glück führt die Röhre gerade in die Tiefe, nirgendwo ist eine Verengung zu erkennen. Nun kann ich mich mit den nächsten Schritten befassen: Im Rucksack habe ich fünf Sicherungshaken, solche, wie sie die Bergsteiger benutzen. Einen davon könnte ich in die Seitenwand einschlagen, das Seil hindurch ziehen. Doch ich befürchte, dass ich mich an dem glatten, nassen Seil ohne Hilfsmittel nicht halten kann, es mir durch die Hände gleiten würde. Ich suche nach einem Behelf, wie ich das verhindern kann.
“Man denkt eben nicht an alles, wenn man etwas Ungewöhnliches unternimmt. OK, das ist nicht perfekt. Muss ich mir eben etwas ausdenken.“
Ich fühle mich wie Robinson Crusoe, der wusste sich auch stets selbst zu helfen. Wenn ich nun das Seil mehrmals um den Stiel des Spatens winde, den zwischen die Beine nehme und mich auf den quer liegenden Stiel setze? Ziehe ich an dem freien Ende, so könnte die Reibung genügen, um ein zu rasches Abrutschen in die Tiefe zu verhindern. ‚Ich kann mich ja zusätzlich mit dem Rücken und den Beinen abstützen.’ Da ich nicht weiß, wie viele Windungen erforderlich sind, teste ich das erst einmal. Dafür treibe ich einen der Felshaken in die Decke, ziehe das Seil durch seine Öse und probiere die optimale Zahl der Windungen aus. Es zeigt sich, dass vier genügen würden, fünf aber sicherer sind, um das Rutschen des Seiles um den Spatenstiel zum Stillstand zu bringen. Für den Einstieg in den Schacht kann ich den Haken oben an der Decke nicht nutzen, denn dadurch würden zwei Meter des Seiles vertan. Also schlage ich einen zweiten direkt über dem Schacht in die Wand.
„Was denkst du, soll ich es versuchen? Ja? In Ordnung - es bleibt mir ja auch kaum etwas anderes übrig. Du hast gut reden, liegst vielleicht im Bett, oder sitzt in einem bequemen Sessel und liest. Dir kann nichts passieren, aber mir. Ich muss meine Angst überwinden.“
Eine ganze Weile brauche ich noch, bis ich mich dazu durchringe, den Abstieg in den engen Schacht zu starten, weiß ja nicht, ob alles so abläuft, wie ich es geplant habe. ‚Wenn etwas schief geht? Dann stürze ich fünfundzwanzig Meter in die Tiefe.’ Ich weiß auch nicht, was mich da unten erwartet. An die Felswand sprühe ich einen auf den Schacht zeigenden, gut sichtbaren weißen Pfeil und hoffe dass, wenn es nötig werden sollte, meine Retter dieses Zeichen verstehen werden. Dann nehme ich noch einige Bilder auf. Nun muss ich, wenn ich will...
‚Verdammt, das ist gar nicht so einfach. Wenn ich abstürze, breche ich mir vielleicht das Genick.’ Erst einmal ziehe ich die eine Hälfte des Seiles durch die Öse des Felshakens, knote die beiden Enden zusammen, befestige den Rucksack an dem Seilende und lasse ihn in den Schacht hinunter. Den Spatenstiel mit dem doppelt liegenden Seil fünf mal zu umwickeln ist schnell erledigt, doch mich dann auf den Stiel setzen und rückwärts über den Schacht zu hängen, den Sturz nur durch das Straffen des Seiles verhindernd, das erfordert große Überwindung. ‚Ich habe es doch getestet, es funktioniert bestimmt!’, rede ich mir ein, mache mir damit Mut, nehme den Stiel zwischen die Beine. Krampfhaft ziehe ich das freie Ende des Seiles nach oben. Noch stehen meine Füße auf dem Schachtrand. Ganz vorsichtig lockere ich den Zug des Seiles etwas; sofort gleite ich ein Stück abwärts. Davon erschreckt, reiße ich das Seil wieder nach oben. Nun lege ich mir das Seil über Schultern und Nacken, so dass ich es nach unten ziehen muss, um zu bremsen. Der feste Stoff des Overalls schützt mich vor der durch die Reibung des Seiles entstehenden Wärme. So geht es besser! Ich kann mit meinem Körpergewicht leicht die erforderliche Bremskraft aufbringen. Ganz langsam gebe ich nach. Es klappt. In kleinen Etappen lasse ich mich in den Schacht hinunter sinken, halte immer wieder an, stemme dann Rücken und Beine gegen die Wand des Schachtes, die aus gewachsenem Fels besteht. Nach vielen Zwischenstopps erreiche ich den Grund des Schachtes. Da ist der Boden feucht, an einigen Stellen stehen Wasserlachen. Mein Rucksack liegt in einer Pfütze. Ich lege ihn an eine trockene Stelle, ziehe danach das Seil herunter, das klatschend neben mir aufschlägt.
„Mann, bin ich froh, mit nur geringen Blessuren hier unten angekommen zu sein!“
Wieder befinde ich mich in einer runden Kammer. Zwei Stollen gehen in entgegen gesetzter Richtung von ihr ab. Erst einmal untersuche ich die Atemluft.
„Der Sauerstoff könnte ja knapp werden und du hast doch bestimmt auch schon von Gasexplosionen in Bergwerken gehört. Deshalb...“
Alles OK! Die Flamme brennt ruhig hinter der Gaze. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass ein entzündbares Gas-Luft-Gemisch vorhanden ist, denn dann würde sich die Farbe der Flamme in dem Gerät verändern. Mir fällt ein, dass Kohlendioxid und Methan schwerer als Luft sind. Am Boden könnte deshalb eine höhere Konzentration auftreten. Ich wiederhole dort den Test, doch auch da ist alles in Ordnung. Nun suche ich mir eine einigermaßen trockene Stelle und lege erst einmal eine Pause ein, stärke mich, blicke mich um. Die Kammer sitzt in einem Stollen, der nach beiden Seiten weiter führt. Die Frage, die sich nun ergibt ist: ‚In welche Richtung soll ich gehen?’ Das Wasser fließt in den rechts von mir liegenden Stollen hinein. Doch das ist noch kein sicherer Hinweis darauf, dass ich dort dem Ausgang näher kommen könnte. Irgendwo wird es wahrscheinlich in einen Schacht verschwinden. ‚Der Luftstrom? Genau, dem muss ich folgen. Darin besteht meine Hoffnung.’ Da das Prüfgerät kein entzündbares Gasgemisch angezeigt hat, kann ich jetzt ohne Bedenken das Feuerzeug benutzen. Ich verstaue den restlichen Proviant im Rucksack, nehme mein Feuerzeug, halte es auf Armeslänge in den linken Gang hinein. Die Flamme brennt ruhig. Hier steht die Luft. Nun gehe ich zum Stollen auf der rechten Seite und tue das Gleiche. Zu meiner Verwunderung gibt das Verhalten der Flamme auch hier keinen Hinweis darauf, dass die Luft sich bewegt. Erst einmal bin ich ziemlich ratlos. ‚Weiter oben habe ich doch den Luftzug ganz deutlich gespürt. Vielleicht kam die Luft aus Gängen, die in den Schacht mündeten und ich habe sie übersehen, meist du? Unwahrscheinlich! Nachprüfen kann ich es jetzt sowieso nicht mehr, denn ich habe ja das Seil bereits herunter gezogen. Aber ohne diesen Luftzug könnte der Sauerstoff, den ich zum Atmen brauche, rasch abnehmen.’ Ich wage es nicht, weiter zu gehen. Wieder kriecht diese Unsicherheit in mir hoch. Sie kommt aus dem Bauch, lässt das Herz rasen, erreicht den Kopf, will Panik auslösen. Doch bevor das eintritt, gelingt es mir, sie zu dämpfen. Autogenes Training hilft dabei und ich sage mir, dass keine Lebensgefahr besteht. Wenn ich nicht weiter komme, werden sie am Sonntagabend meine Email erhalten und bestimmt nach mir suchen.
„Also, autogenes Training kann ich dir nur empfehlen“
Ich schaue auf die Uhr. Es ist bereits weit nach Mittag. ‚Wenn einem das Tageslicht fehlt, hat man kein Gefühl mehr für die Zeit.’ Noch einmal prüfe ich mit der Flamme des Feuerzeuges die Luft. Erst unten am Boden, dann in halber Höhe. Die Flamme bewegt sich nicht. Erst als ich das Feuerzeug dicht unter die Decke halte, wird sie deutlich zur Seite geweht. Ich atme auf. Die Angst verfliegt, neuer Mut beflügelt mich. ‚Der Luftzug kommt also aus dem rechten Stollen.’
„Kannst du mir erklären, weshalb er oben unter der Decke fließt? Du meinst, dass die Luft wärmer sein muss als die, die im Stollen steht? Genau, das ist es. Mit der Tiefe nimmt die Temperatur zu. Die Luft muss also aus größerer Tiefe herauf kommen."
Nach einer Ruhepause versuche ich erst einmal ein Stück des nach links führenden Stollens zu erkunden. Vorsichtig leuchte ich hinein. Hier und da sind Steine von der Decke herunter gebrochen, liegen als Hindernisse auf dem Boden. Nach nur wenigen Metern trifft das Licht der Lampe auf blanken Fels. Dort scheint der Stollen zu Ende zu sein. Erst beim genaueren Hinsehen bemerke ich, dass der Gang nach rechts abbiegt, also doch weiter geht. ‚Ob die Bergleute sich damals verrechnet haben und ein paar Meter neben der Kammer angekommen sind, das korrigieren mussten? Wer weiß es?’ Ich leuchte vorsichtig um die Ecke, fahre zusammen. Aus der Finsternis starren mich zwei Augen an. Unfähig mich zu bewegen, verharre ich wie eine Wachspuppe. Erst als ich bemerke, dass sie nicht näher kommen, schwindet meine Blockade. ‚Was soll das? Gespenster gibt es nicht und Ungeheuer sicher auch nicht.’ Trotzdem gehe ich und hole den Spaten, um wenigstens wehrhaft zu sein - für alle Fälle. Als ich damit zurück komme, sind sie immer noch da, diese starr blickenden Augen, immer noch am gleichen Ort. Den Spaten zur Abwehr erhoben nähere ich mich ihnen Schritt für Schritt. Eigenartig! Die Farbe der Augen ändert sich. Dann kann ich erkennen, um was es sich handelt, hole tief Luft, löse damit den Krampf meines Zwerchfells. ‚Kein Ungeheuer, kein Geist.’ Das Licht meiner Lampe wird von zwei Kristallen reflektiert, die sich an einem Vorsprung der Decke des Stollens gebildet haben. Trotzdem sitzt mir der Schreck in den Gliedern und ich verzichte auf die weitere Erforschung dieses Ganges, zumal ich ihn nicht für den weiteren Weg nutzen kann.‚Wieso lasse ich mich nur so leicht aus der Fassung bringen? Wahrscheinlich ist es diese unheimliche Atmosphäre, dieses Schweigen, diese Dunkelheit rings umher, in die meine Lampe ein nur sehr begrenztes Loch brennt.
„Weißt du! Angst ist eine Schutzreaktion, ein Gefühl, ein Instinkt, der uns angeboren ist, der sich in kritischen, nicht erklärbaren Situationen und bei Gefahr unabhängig von unserem Willen Bahn bricht. Sicher hast du das auch schon erlebt. Na gut, man gibt nicht gern zu, dass man manchmal Angst hat, doch dieser Instinkt erfüllt durchaus seinen Zweck.“
Ich habe keine Zeit, muss weiter, weiß ja nicht, wie lange ich noch brauchen werde, um einen Ausgang zu finden. Bevor ich den rechten Stollen betrete, bringe ich wieder einen weißen Pfeil an, der zeigen soll, dass ich da hinein gegangen bin. Im Stollen kann ich aufrecht gehen, kann meinen Rucksack jetzt auf dem Rücken tragen. Vorsichtig, den Gang Stück für Stück ausleuchtend, erst die Decke, danach die Seiten, schließlich den Boden, gehe ich Schritt für Schritt vorwärts, komme an Brüche, an denen Steine von der Decke herunter gefallen sind. An anderen Stellen hängen sie noch lose oben. Ich muss sie erst herunter brechen, um mich nicht zu gefährden. All das erschwert das Vorwärtskommen. Doch zum Glück ist der Stollen nie ganz versperrt. Es müssen bereits fast achtzig Meter sein, die ich, bei bisher geringem Gefälle, in dem geradlinig verlaufenden Stollen überwunden habe, da steht Wasser im Gang. Obwohl ich annehme, dass es nicht tief ist, wate ich nicht einfach hinein, kann ja den Boden nicht beurteilen. Wenn sich da ein Schacht befinden sollte, der mit Wasser voll gelaufen ist, würde ich prompt hineinstürzen.
„Da sitze ich ja ganz schön in der Patsche. Was würdest du jetzt an meiner Stelle machen? Zurück gehen? Das bringt nichts. Also vorwärts? Leichter gesagt als getan.“
Mich dicht an der Seitenwand haltend, ständig mit dem Spaten die Wassertiefe testend, wate ich hinein. Jetzt bewähren sich die Gummistiefel. Nach etwa zehn Metern stoße ich auf des Tümpels Ursache. Ein Teil der Decke ist herunter gebrochen, hat einen Damm gebildet, vor dem sich das Wasser staut. Vorsichtig grabe ich einen Abfluss in den Damm. Das Wasser gurgelt in den dunklen Stollen hinein und schon nach wenigen Minuten ist der Tümpel leer gelaufen. Er war ganz flach, das sehe ich jetzt. Auf seinem Grund haben sich Sedimente und Schlamm abgesetzt. Deutlich kann ich meine dicht an der Wand entlang führenden Fußstapfen erkennen. Aber was ist das? Auf dem Grund befinden sich noch andere Spuren. Mit Wasser gefüllt, sind sie gut sichtbar. Zwei Reihen runder Stapfen. Erst nehme ich an, dass vielleicht Wirbel, die beim Ablaufen des Wassers entstanden sind, diese merkwürdigen Eindrücke verursacht haben. Doch als das Wasser aus den Stapfen versickert, ich die genauer prüfen kann, wird mir klar, dass es die Trittspuren eines Tieres sind. Die Schleifspur zeigt, dass das Tier einen Schwanz haben muss. Kalter Schauer kriecht mir über den Rücken. Was verbirgt sich da in den dunklen Gängen? Es sind die Spuren eines ziemlich großen Tieres. Der Durchmesser der einzelnen Stapfen misst gut fünf, der Abstand zwischen der linken und der rechten Spurenreihe gut zwanzig und der Abstand zwischen den Eindrücken einer Reihe bestimmt vierzig Zentimeter. ‚Dann könnte das Wesen, das hier entlang gekrochen ist, Kopf und Schwanz mit gerechnet, fast einen Meter messen. Das ist unmöglich? Ja! Eigentlich kann das gar nicht sein. Ein solches Tier würde hier unten überhaupt nicht existieren können - glaube ich. Es würde nicht genügend Nahrung finden. Hier leben höchstens Grottenmolche von wenigen Zentimetern Länge, die sich von dem ernähren, was von dem eindringenden Wasser in die Stollen und Gänge gespült wird. Aber die Spur? Genau! Die Spur ist da, daran ist nicht zu zweifeln.’ Damit ist eine ganz neue Situation entstanden. Diese schwarze Wand vor mir ist noch geheimnisvoller, noch unheimlicher geworden. ‚Was verbirgt sie vor mir? Was könnten das für Lebewesen sein, die, entgegen aller Logik, hier unten zu existieren?’ Erst einmal dokumentiere ich die Spur. Bevor ich weiter gehen kann, muss ich alle Möglichkeiten abwägen...
„Woher könnten sie gekommen sein? Hast du eine Idee? Nein?“
‚Von draußen kaum, denn dort sind noch nie solche Tiere beobachtet worden. Siehst du das auch so? Sollten sie sich vielleicht aus den winzigen Grottenmolchen entwickelt haben? Das glaubst du nicht? Immerhin befinden sich diese Stollen in einem Gebiet, in dem Radongas auftritt. Und ganz in der Nähe wurde Uranerz abgebaut. Es könnte doch möglich sein, dass die Strahlung zu einer Mutation der winzigen Grottenmolche geführt hat? Wenn sie nun über Jahrhunderte langsam an Größe zugenommen haben? Wovon sie leben? Das ist eine gute Frage. Ein reichliches Nahrungsangebot wäre erforderlich. Ratten oder andere kleine Tiere kommen hier sicher nicht häufig vor. Auch sie würden ja keine Nahrung finden. Was es sonst noch gibt? Wasser ist ausreichend vorhanden - klar, doch davon allein können sie nicht leben. An organischer Substanz käme nur die Steinkohle in Frage. Glaubst du, dass sie Steinkohle fressen? Steinkohle ist aus Pflanzen entstanden, könnte vielleicht geeignet sein. Erst als Zusatz-, später als Hauptnahrung. Wir wissen ja, dass sich Leben auf der Erde an die unterschiedlichsten Bedingungen anpasst. Ist auch egal! Die für mich von ihnen ausgehenden Gefahren muss ich abschätzen. Vielleicht sind es Kannibalen? Und wenn es Kannibalen wären, dann könnten sie auch mich als Beute ansehen, mich angreifen. Sollten sie tatsächlich von Steinkohle leben, ist davon so viel vorhanden, dass sie vielleicht nicht zu Kannibalismus gezwungen sind. Das hoffe ich zwar, muss aber den ungünstigeren Fall annehmen. Wie sie aussehen? Hier unten ist es dunkel, Augen dürften ihnen nichts nützen. Sie leben in völliger Finsternis. Da sie weder Hämoglobin noch Chlorophyll bilden können, werden sie weißlich oder fast farblos sein. Oder schwarz, meinst du? Kann auch sein. Sie müssen sich in dem Stollensystem orientieren können. Wie machen das die Mäuse, Ratten, Hamster und Füchse? Ich glaube, die prägen sich den Verlauf ihrer Gänge ein und alle besitzen Tasthaare. Vielleicht markieren sie die Gänge oder orientieren sich wie die Fledermäuse durch Ultraschall. Das würde nur in einem Raum funktionieren, nicht in einem so engen Höhlensystem? Vielleicht haben sie auch uns ganz unbekannte Sinne entwickelt. Ihre Zähne müssen sich zum Abnagen der Steinkohle eignen. Ihr Gebiss würde das nicht leisten können? Vor kurzem habe ich einen Film gesehen, in dem Papageifische sogar Korallen abnagten. Steinkohle ist nicht so hart. So ungefähr kann ich mir diese geheimnisvollen Lebewesen jetzt vorstellen. Wenn nun plötzlich ein solches Exemplar vor mir auftaucht? Wie soll ich mich verhalten? Das Vieh ist bestimmt noch nie einem Menschen begegnet. Die meisten fliehen, wenn sie auf Menschen treffen, es sei denn, sie fühlen sich bedroht. Die erste Regel muss also sein, sich ruhig zu verhalten. Ich bin im Vorteil, kann die Lampe benutzen, kann sie sehen, die Tiere nicht. Sie könnten mich riechen, werden mich spüren? Sie werden vorsichtig sein, mich nicht sofort angreifen. Darin liegt meine Chance.’
Der Stollen biegt nach rechts ab. Nach meinem Gefühl bewege ich mich etwa im rechten Winkel zu der Richtung, aus der ich gekommen bin, aber viel tiefer drinnen im Berg. Wieder treffe ich auf so eine runde, diesmal größere Kammer. Hier bildet das Wasser einen runden Tümpel. Ein Stollen führt auf der anderen Seite der Kammer weiter, noch einen zweiten sehe ich. Der Boden ist hier mit schwarzem Schlamm aus zermahlener Steinkohle bedeckt. In der Nähe des Tümpels sind mehrere dieser Spuren zu sehen. Ein richtiger Pfad führt auf der gegenüber liegenden Seite in den Stollen hinein. ‚Vielleicht kommen sie hierher zur Tränke?’ Wieder teste ich die Luft, bevor ich mich entschließe, weiter vorzudringen. Noch gibt es keine Anzeichen für Sauerstoffmangel. Trotzdem bin ich sehr abgespannt und müde, müsste ein paar Stunden schlafen, doch das geht nicht. Wenn mich diese Tiere im Schlaf überraschen, bin ich völlig wehrlos. Der Boden ist schlammig, dass ich mich nur hinhocken kann. In unbequemer Stellung harre ich einige Zeit aus, esse und trinke etwas, raffe ich mich danach wieder auf. ‚Ich müsste einen Stollen finden, der nach wenigen Metern endet, in dem ich mich verbarrikadieren kann.’ Der erste, den ich untersuche, steigt allmählich an. Er ist einigermaßen trocken, führt ein Stück waagerecht in den Berg hinein. Dann folgen zwei Stufen von je fast einem halben Meter Höhe, gerade so, als habe man Barrieren einfügen wollen. Diese Stufen könnte ich leicht überwinden, bleibe aber noch davor stehen. Nur ein sehr schmaler und niedriger Gang führt weiter. Er ist nicht tief, sein Ende kann ich im Licht meiner Lampe erkennen. Der würde sich eignen. Diese Stufe können die Echsen wahrscheinlich nicht überwinden. Doch die Luft ist stickig. Mein Kopf beginnt zu schmerzen und mir wird schwindlig. Schon will ich wieder zurück gehen, da fällt mir auf, dass links und rechts Kammern in den Fels gehauen wurden.
‚Das muss ich erkunden! Was für einen Sinn haben diese Kammern?’ Doch erst einmal gehe ich zurück, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es dauert, bis sich mein Befinden einigermaßen normalisiert hat. Dann sauge ich wiederholt Luft in die Lunge, halte die einen Augenblick an, atme danach aus. Dadurch reichere ich den Sauerstoff im Blut an. Genau so mache es vor einem Tauchgang, um länger unter Wasser bleiben zu können. Diesmal nehme ich den Spaten mit. Schnell überwinde ich das erste Stück des Stollens und die zwei Stufen, halte die Luft an. Bis zur ersten Kammer ist es kaum ein Meter. Ein wirrer Haufen von Gerümpel liegt darin. Erst kann ich gar nicht erkennen, um was es sich da handelt. Dann sehe ich, dass es Beschläge und Reste von Holzbohlen sind, unter denen schwarze Gefäße und runde Platten liegen. Luftmangel treibt mich zurück...
‚Sollte das der Windbergschatz sein? Vielleicht war er in Kisten verpackt, die inzwischen verrottet sind.’
„Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie gespannt und aufgeregt ich bin. Es gibt ihn also doch, den Windbergschatz! Ich könnte jubeln. Wenigstens ein Stück werde ich herausholen und mitnehmen, als Beweis für seine Existenz. Alles andere sollten dann Fachleute bergen.“
Noch einmal dringe ich in den schmalen Gang ein, greife wahllos eines der Gefäße. Einen Krug habe ich erwischt, der jedoch gar nicht nach einem Schatz aussieht. Ich weiß ja, dass Silber schwarz wird, wenn es lange liegt. Und das hier hat viele Jahre in feuchter Umgebung gelegen. Um zu prüfen, ob es sich tatsächlich um Silber handelt, nehme ich etwas von dem schlammigen Grund auf, klemme den Krug zwischen die Knie und reibe ihn, bis er nach einiger Zeit blank wird. Es ist Silber!
„Es ist kaum zu fassen. Ich habe den Windbergschatz gefunden. Du könntest mir ruhig gratulieren!“
‚Das wird eine Sensation? Na klar, wer hätte gedacht, dass der Berg ein solches Geheimnis hütet? In diesem Moment sind alle Schwierigkeiten vergessen.’ Den Krug verstaue ich im Rucksack. Danach gehe ich noch einmal zu dem schmalen Gang, nehme diesmal die Kamera mit. Ich habe nur wenig Zeit, doch die genügt, um festzustellen, dass es insgesamt sechs dieser Kammern gibt. ‚Da muss eine ganze Menge Silber drin liegen.’ Nun habe ich nur noch ein Ziel, so rasch wie möglich diese Finsternis zu verlassen, zurückzukehren ans Licht. Durch die Erfahrung, die ich in den anderen Stollen gemacht hatte, klug geworden, prüfe ich die Luft, bevor ich den dritten Stollen betrete. Die Flamme meines Feuerzeuges zeigt an, dass der Luftzug immer noch vorhanden ist, dass er aus diesem Stollen kommt. Den Rucksack als Schild in der linken, den Spaten als Waffe in der rechten Hand, gehe ich ganz vorsichtig hinein. Wieder geht es abwärts, immer noch mit nur geringem Gefälle. Da wechselt die Farbe der Stollenwände von schmutzigbraun in schwarz. Steinkohle! Ich steche mit meinem Spaten ein Stückchen aus der Wand. ‚Tatsächlich Steinkohle!’ Der Stollen quert einen Steinkohlenflöz. Metertiefe Löcher sind in den Flöz getrieben worden. Die Wände dieser Löcher sind wie glatt gehobelt, laufen nach hinten trichterförmig zu und gehen dort in einen ovalen Gang über, der jedoch für einen Menschen viel zu eng wäre.
„Du, ich glaube, jetzt bin ich im Revier der Echsen. Hier haben sie Steinkohle abgetragen. Wahrscheinlich verfügen sie über ein weit verzweigtes Höhlensystem.“
Noch während ich eine der Ausbuchtungen genauer betrachte, taucht aus der Höhle der grauweiße Kopf eines merkwürdigen Wesens auf...
‚Das ist eine dieser Echsen!’ Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück. Was da zu sehen ist, schockiert mich. Über dem aufgerissenen Maul stehen in zwei Reihen sechs Fühler, an deren Enden schwarze, glitzernde Kugeln sitzen. Die sind auf mich ausgerichtet, als wollte das Vieh erkunden, was es da vor sich hat. Augen kann ich nicht erkennen, hatte das ja auch nicht erwartet - hier unten in dieser absoluten Finsternis. Auch Ohren sehe ich nicht, doch die könnten unter der Haut verborgen sein. Unmittelbar oberhalb der Fühler befindet sich eine Öffnung, durch die das Tier zu atmen scheint. In seinem Maul stehen unten und oben kräftige Nagezähne. ‚Damit ist es bestimmt in der Lage Steinkohle abzutragen.’ Als ich noch einen Schritt zurückweiche, muss das die Echse spüren, denn sie kommt aus der Höhle heraus und auf mich zu. Dabei lässt sie ein dumpfes gurgelndes Fauchen hören. Fast einen Meter ist sie lang und besitzt einen kräftigen, oben gepanzerten Schwanz, der aufgeregt den Boden peitscht. Zwei Meter vor mir verhält das Vieh. Wieder faucht die Echse drohend. ‚Dann muss sie auch hören können. Wenn die mich jetzt angreift, habe ich ihr wenig entgegenzusetzen, habe eigentlich gar keine Chance. Die habe ich nur, wenn ich selbst als erster überraschend angreife und das Biest mit meinem Spaten erschlage.’ Mit zwei Schritten bin ich dem Tier so nahe, dass ich es mit dem Spaten erreichen kann. Wahrscheinlich kann die Echse diese schnelle Bewegung nicht verfolgen, verharrt. Die scharfe Kante des Spatenblattes trifft ihren Kopf mit aller Wucht. Es knirscht. Der Spaten dringt in den Kopf der Echse ein, spalten ihn. Das Tier windet sich, sein Schwanz peitscht den Boden, dann bricht es zusammen, zuckt noch ein paar Mal, verendet. Aus seiner Wunde fließt kein rotes Blut, es ist eine farblose Flüssigkeit, die sich auf dem Boden ausbreitet und ekelhaft riecht. Rasch entferne ich mich ein paar Meter, warte, was passieren wird. ‚Das Fauchen und der Todeskampf der Echse könnten andere Tiere alarmiert haben. Von wo werden die kommen?’ Tatsächlich lassen sie nicht lange auf sich warten. Fünf dieser Biester drängen aus den Höhlen hervor, nähern sich dem Kadaver. Ein wildes Fauchen erklingt. Die Echsen reißen das tote Tier in Stücke und verschlingen die gierig.
„Siehst du, es sind also doch Kannibalen.“
Entsetzt ergreife ich Rucksack und Spaten, will weiter den Stollen hinein. Nur weg von diesen Scheusalen. Als ich mich hastig umdrehe, schlägt mein Spaten gegen die Wand, was einen grellen Ton verursacht. Sofort reagieren die Echsen. Zwei von ihnen wenden sich mir zu. Ihre Fühler pendeln hin und her und ihre, wie bei den Schlangen gespaltene Zungen, sind in wippender Bewegung. ‚Wenn die mich anfallen, ist es in wenigen Sekunden aus. Die reißen mir das Fleisch von den Knochen. Ich muss hier weg - sofort!’
Da kommen sie auch schon herangewatschelt. In diesem Moment glaube ich, dass alles zu Ende geht, bin wie erstarrt. Erst als sie schon bis auf drei Meter an mich heran gekommen sind, löst sich meine Erstarrung. Ich renne in den dunklen Schacht hinein. Irgendwo liegt ein Stein im Weg, über den ich stolpere und lang hinschlage. Meine Knie prallen schmerzhaft auf den harten Boden, die Hände sind zerschrammt. Ich blicke zurück, sehe, dass die Scheusale dicht hinter mir sind. Ihre Mäuler weit aufgerissen, kommen sie fauchend auf mich zu. Mir bleibt keine Zeit.
"Ich sage dir, die wollen mir ans Fell. Sei froh, dass du nicht hier unten bist."
Von Panik erfasst springe ich auf, donnere mit dem Kopf gegen die Decke des Stollens. Ein Glück, dass mich der Helm schützt, sonst wäre ich bestimmt ohnmächtig geworden. Rucksack und Spaten zurück lassend, renne ich ums nackte Leben. Die Luft wird knapp. Ich sehe alles nur noch wie durch einen Schleier, habe das Gefühl, als stürze ich in einen dunklen Schacht. ‚Jetzt ist es aus!’, das ist mein letzter Gedanke, bevor mir die Sinne schwinden.
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Noch ganz benommen komme ich wieder zu mir - im Wald neben der gestürzten Buche. ‚Was war das? Befand ich mich nicht eben noch in einem Stollen, gejagt von scheußlichen Echsen. Und nun liege ich hier, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, alles ist friedlich.’
„Kannst du mir das erklären? Du warst ja nicht ohnmächtig, hast vielleicht miterlebt, was da passiert ist. Quatsch, kannst du ja gar nicht. Du liest doch nur das, was ich erlebe.“
‚Warum kann ich mich nur nicht deutlich erinnern, was da passiert ist?. Die Bilder bleiben unscharf, sind verzerrt wie Traumbilder.’ Mir kommen Zweifel, ob ich wirklich da drinnen war. ‚Gab es diese Echsen wirklich, oder habe ich das nur geträumt?’ So sehr ich mich auch anstrenge, ich weiß es nicht. Aber meine Knie und meine Hände sind zerschrammt, das ist Fakt.
‚War da nicht auch ein Krug aus Silber?’ Ich blicke mich um... ‚Da ist keiner, auch der Rucksack fehlt. Wieso? Also doch nicht nur geträumt?’ Alles ist so rätselhaft und mein Kopf schmerzt. Nach einer ganzen Weile quäle ich mich hoch, gehe nach Hause. ‚Auf keinen Fall werde ich jemandem etwas von diesem merkwürdigen Erlebnis erzählen. Vielleicht war es ja doch nur ein Traum.’
„Und auch du schweigst! Versprich es mir! Man würde mich auslachen. Von wegen Steinkohle fressende Echsen und ein Silberschatz im Windberg. Wer sollte das ernst nehmen? Beweise dafür habe ich nicht.’
Aber irgendwann gehe ich noch einmal dort hinauf zu der Buche, bei der diese phantastische Geschichte ihren Anfang nahm. Dann muss es sich zeigen, ob es ein Erlebnis oder doch nur ein Traum gewesen ist.’

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Eine halbe Stunde Hoffnung
In einer Imbissstube sitzt sie mir gegenüber - am Nachbartisch. Eine Frau, deren kantiges, zerfurchtes Gesicht auf ein nicht einfaches Leben hindeutet. Weißgraues, wirres, schon gelichtetes Haar umgibt ihr Haupt wie ein Strahlenkranz. Spitz spießt ihre Nase zwischen den Gläsern der Brille hervor, läuft auf ihrer Stirn in zwei tief eingegrabene Furchen aus. Kurzsichtig, die Hornbrille auf der Nasenspitze balancierend, neigt sie sich tief über einen Stapel bunter Blätter. Erst mit ihrem Zeigefinger darauf tippend, sie dann vor sich hin murmelnd, vergleicht sie, ganz in ihr Tun versunken, Bingozahlen mit der Glückszahl, die in der neben ihr liegenden Zeitung stehen muss.
Von ihr geht eine wunderbare Faszination aus, die mich zum Hinschauen zwingt. Vielleicht ist es unabwendbare Armut, die sie dazu gebracht hat, alles Hoffen auf diese, wenn auch nur winzige Chance zu setzen. Wenigstens deutet ihre Kleidung und der kleine Teller Eintopf, den sie sich zu Mittag geleistet hat, darauf hin.
In immer gleich bleibendem Rhythmus gleitet ihr Finger von Zahl zu Zahl, verharrt einen Augenblick, rückt dann zur nächsten, unermüdlich, ohne Pause. Sie muss gespürt haben dass ich sie beobachte, blickt auf, schaut zu mir herüber. Hinter der Hornbrille glimmen dunkelbraune Lichter. Ihr schmaler Mund ist verkniffen, verrät Missmut wegen der Störung, Abwehr. Nur einen Moment dauert das Fixieren, dann verlischt das Glimmen ihrer Augen. Sie wendet sich erneut ihren Zahlen zu.
Wieder, erst mit dem Finger darauf tippend, sie dann leise vor sich hin murmelnd hofft sie wohl irgendwann einmal diejenige zu entdecken, die ihr den ersehnten Gewinn verspricht. Eine halbe Stunde lang gibt sie sich andachtsvoll dieser, ihr noch verbliebenen Hoffnung hin.
Ich wünsche ihr von ganzem Herzen Glück, hoffe darauf, dass sie aufjubelt, warte geradezu darauf - vergebens! Die letzte Zahl ist verglichen, das letzte Blatt beiseite gelegt. Auch diesmal, wie sicher schon oft, ist die kurze Zeit des Hoffens vorüber, ohne ihr das ersehnte Glück gebracht zu haben.
Sie hebt den Blick. Ihr Gesicht scheint noch kantiger geworden zu sein. Sie presst die Lippen, lässt ihre Schultern hängen. Doch die Enttäuschung währt nur kurze Zeit, dann rafft sie sich auf. Sie lächelt, verstaut die Hoffnungsblätter in ihrer Tasche, und geht.
Sinnend blicke ich ihr nach. Wird sie verzagen? Nein, so sieht sie nicht aus. Warum auch? Braucht sie doch nur kurze Zeit zu warten, bis die nächste Ziehung ihr die nächste halbe Stunde Hoffnung schenkt.

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Der Tod des Auserwählten
Kaum in Besitz des Führerscheins, geht Thomas zusammen mit seiner Mutter zum Opelhändler, um den für ihn reservierten Kadett in Empfang zu nehmen. Noch ein wenig unsicher rangiert er das Auto aus der Halle, doch bereits nach wenigen Kilometern gaukelt ihm sein Gefühl perfektes Beherrschen vor. Zu Hause angekommen, versucht seine Mutter, ihn davon zu überzeugen, dass es besser wäre, wenn er mit einer größeren Fahrt bis zum nächsten Morgen wartet. Doch Thomas ist anderer Mei-nung. Er will nicht warten, setzt sich über ihren Rat hinweg. Während seine Mutter murrend nach oben geht, steigt er wieder in seinen nicht mehr ganz neuen, aber noch gut erhaltenen roten Kadett. Ihre Mahnung: „Sei vorsichtig! Fahre nicht so schnell!“, erreicht zwar noch sein Ohr, doch nicht mehr sein Bewusstsein.
Er schwelgt in dem Gefühl, nun endlich, ohne die lästige Kontrolle des Fahrlehrers, am Steuer zu sit-zen und der Maschine seinen Willen aufzwingen zu können, fühlt sich frei und stark. Die Kraft des Motors scheint auf ihn überzugehen. Laute Musik hämmert aus den Boxen, übertönt fast das Moto-rengeräusch. Kilometer um Kilometer legt er wie im Rausch zurück. Dämmerung kriecht über das Land und es beginnt zu regnen. Die Scheibenwischer ziehen Schlieren auf der Frontscheibe und er-schweren die Sicht. Trotzdem jagt er vorwärts. Die Pfütze vor einer Bushaltestelle übersieht er. Brau-ne Brühe spritzt bis auf den Bürgersteig. Im Rückspiegel beobachtet er die ihm nachdrohenden Men-schen. Höhnisch lacht er, pfeift durch seine Zahnlücke und gibt Gas.
Kai ist gleich nach der Schule zur Apotheke gelaufen, wo er für seinen Großvater das lebenswichtige Insulin abholen soll. Später fährt er mit dem Fahrrad zu ihm in den Nachbarort. Opa freut sich immer wieder über die Hilfsbereitschaft seines Enkels. Nachdem sie einige Zeit über die Schule, die Lehrer und Mitschüler geredet haben und Kai seine Cola getrunken hat, begutachtet er Opas neuen Compu-ter und richtet für ihn den Internetzugang ein. Es dauert einige Zeit, bis er die wichtigsten Funktionen erklärt hat, danach begibt er sich auf den Heimweg.
Inzwischen ist es Abend geworden. Der Regen setzt Tropfen auf seine Brille, die Konturen der Stra-ße verschwimmen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, folgt er dem weißen Begrenzungsstreifen, den er durch die nassen Gläser noch gut erkennt. In der langen Rechtskurve, dicht vor dem Ortsein-gangsschild, passiert es...
Auch Thomas ist auf dem Weg nach Hause und steigt, bevor er das Dorf erreicht, noch einmal richtig ins Gas. Mit zusammengekniffenen Augen starrt er durch die leicht verschmierte Frontscheibe, sieht in der Ferne bereits die Lichter des Ortes. Noch einmal genießt er den Rausch der Geschwindigkeit. Dicht am rechten Straßenrand fahrend, jagt er in die Rechtskurve hinein. In letzter Sekunde erkennt er zwar noch das rote Rücklicht eines Fahrrades, doch ihm fehlt die Routine, um den Zusammenstoß abwenden zu können. Vor Schreck erstarrt, verkrampft er hinter dem Lenkrad, kann nicht reagieren. Er spürt den Stoß, erschrickt, hört blechernes Kratzen, sieht einen dunklen Schatten rechts an der Seitenscheibe vorbeihuschen.
„Verdammter Mist!“, flucht er, bremst kurz, fährt dann wie unter Zwang weiter. Er will nicht wahrhaben, was geschehen ist, hofft, dass er sich getäuscht hat. Zu Hause stellt er das Auto hinter dem Haus unter dem Carport ab. Er hatte den Zusammenstoß zwar registriert, doch die Erkenntnis, dass er ei-nen Unfall verursacht hat, verdrängt er verzweifelt.
Es ist Kai, der von dem heranrasenden PKW erfasst und zur Seite geschleudert wird. Er prallt gegen einen Baum, rollt in den Straßengraben. Kai hat starke Schmerzen in der Brust, doch er ist bei Be-wusstsein. Leise ruft er um Hilfe -niemand hört ihn. Aufstehen kann er nicht. Bei jeder Bewegung ja-gen stechende Schmerzen durch seinen Körper. Das Atmen fällt ihm schwer. Furchtbare Angst treibt ihn. Stöhnend kriecht er vorwärts, doch nach wenigen Metern verlässt ihn die Kraft. Ihm wird schlecht. Mühsam hebt er, um Hilfe flehend, seine Hand, doch da ist keiner, der sie ergreift. Kälte kriecht in seinen Körper, er hustet Blut. Die Schmerzen lassen nach, die Bilder verschwimmen. Strahlende, wirbelnde Helle blendet ihn. Kai versinkt ins Nichts...
Erst als Thomas den zertrümmerten Scheinwerfer sieht und am verbeulten rechten Kotflügel gelbe Farbspuren findet, wird ihm richtig bewusst, dass er jemanden angefahren hat. Er gerät in Panik. Doch nicht die Sorge um den Verunglückten, nein, die Angst vor den Folgen beherrscht sein Denken. Am ganzen Körper zitternd erwägt er, zur Unglücksstelle zurückzufahren. Bereits im Auto sitzend, zögert er...
„Wenn man mich dort sieht, liegt nahe, dass ich der Unglücksfahrer bin“, überlegt er. Das will er auf keinen Fall. „Und wenn der, den ich angefahren habe, stirbt?“, fragt er sich.
Thomas versucht abzuwägen, tröstet sich dann mit: „Bestimmt habe ich ihn nur vom Rad gestoßen. Es wird schon nicht viel passiert sein. Vielleicht ein paar Schrammen. Warum fährt der Heini aber auch im Dunklen?“ Damit schiebt er die Schuld von sich weg, wie es so seine Art ist.
„Erkannt hat der mich bestimmt nicht.“ Die verräterische Farbe am Kotflügel poliert er weg. Kratzer und Dellen kann er jedoch nicht beseitigen. Ratlos steht er davor, sucht nach einer Möglichkeit, diese Spuren des Unfalles zu vertuschen, hat eine Idee: Kurz entschlossen fährt er ein Stück zurück und streift beim wieder Einparken mit Absicht die rechte Säule des Carports.
„Es hat geklappt“ stellt er fest, als er sich den Schaden besieht. Der Kotflügel ist jetzt stärker beschä-digt. An der Säule findet er rote Farbe von seinem Auto. „Trotzdem muss ich das schnell reparieren lassen, damit auch wirklich alle Spuren verschwinden“, sagt er sich. „Gleich morgen früh fahre ich zu Auto-Schulze. Bestimmt haben die auch am Sonnabend geöffnet. Die Kosten der Reparatur muss die Versicherung übernehmen“, meint er. Mit zitternden Fingern zündet er sich eine Zigarette an, zieht den Rauch tief in die Lunge. Langsam spürt er, wie die Angst schwindet. Aufmerksam blickt er sich um, ob ihn jemand beobachtet haben könnte. Da er niemanden bemerkt, ist er beruhigt.
Über eine halbe Stunde vergeht, bevor ein aufmerksamer Passant Kais leblosen Körper im Straßen-graben bemerkt. Per Handy verständigt er Polizei und Notarzt.
Thomas steht noch immer bei seinem Auto, als der Wagen des Notarztes und kurz darauf der Einsatzwagen der Polizei mit Blaulicht durch den Ort in Richtung Unfallstelle fahren. Jetzt ahnt er, dass doch Schlimmeres passiert ist, als er gehofft und sich immer wieder eingeredet hatte. Doch nun kann er nicht mehr zurück. „Die werfen mir Fahrerflucht und unterlassene Hilfeleistung vor. Das gibt ein Strafverfahren. Aber es wird ja niemand erfahren, dass ich den Unfall verursacht habe“, tröstet er sich. „Keiner hat mich gesehen. Die Spuren am Auto sind in Kürze beseitigt.“ Skrupel quälen ihn nicht. Etwas ruhiger geworden, geht er schließlich in die Wohnung, wo ihn seine Mutter schon ungeduldig erwartet.
„Er ist nach dem Unfall wahrscheinlich noch bei Bewusstsein gewesen“, vermutet der Notarzt, der Kai nun nicht mehr helfen kann. „Trotz seiner Verletzungen, er muss gegen den Baum geschleudert wor-den sein, hat er sich ein Stück geschleppt. Dann ist er bewusstlos geworden, ist wahrscheinlich an inneren Verletzungen gestorben. Darauf deutet das Blut hin, das ihm aus dem Mund gelaufen ist. Wäre sofort Hilfe geholt worden, hätte er überlebt.“
Die Polizei hat die Unfallstelle abgesperrt. Blaulichter der grün-weißen Einsatzfahrzeuge blinken in der Dunkelheit. Sie locken in paar Neugierige an, die aus dem kaum einhundert Meter entfernten Ort her-zu laufen.
Die Absperrung hält die Gaffer auf Abstand. Für sie gibt es nicht viel zu sehen. Nur die silbern glän-zende Schutzplane, die über den Toten gedeckt ist, reflektiert das Licht der Scheinwerfer. Polizisten suchen das Gelände ab, finden das ein ganzes Stück zur Seite geschleuderte Fahrrad. An ihm sind die Spuren des Zusammenstoßes deutlich zu erkennen. Die linke Pedale ist abgerissen, der Lenker verbogen, das Vorderrad demoliert. An der linken Seite des gelben Fahrrades finden sie rote Farbspu-ren. Sie stammen wahrscheinlich von dem Auto, das den Unfall verursacht hat. Bremsspuren sind auf dem nassen Asphalt nicht vorhanden, oder nicht zu erkennen. Splitter eines demolierten Scheinwer-fers liegen dort, wo der Unfall geschehen sein muss.
„Arbeit fürs Labor“, bemerkt einer der Polizisten und sammelt die Splitter sorgfältig in eine Plastiktüte.
Als die Mutter von Thomas von dem Schaden am Auto erfährt, wird sie fuchtig: „Für die Reparatur bekommst du von mir keinen Pfennig. Du hast nicht auf mich gehört, bist losgerast. Nun sieh auch, wie du damit zurecht kommst.“ Sie läuft hinunter, um sich den Schaden selbst anzusehen. „Zum Glück ist die Säule des Carports nicht beschädigt worden“, stellt sie aufatmend fest. „Das wäre teuer gewor-den. Dafür hätte ich aufkommen müssen.“ Für den Schaden am Auto hat sie nur einen kurzen Blick übrig. „Musst du ihn eben stehen lassen“, ist ihr ganzer Kommentar. Damit wendet sie sich ab.
„Die Versicherung muss doch zahlen?“, fragt Thomas verunsichert. „Du hast doch die Versicherung abgeschlossen“, erkundigt er sich. Bisher hatte er sich nicht dafür interessiert, es einfach vorausge-setzt.
„Das kannst du vergessen“, bekommt er zur Antwort. „Für Schäden, die man selbst verursacht hat, zahlt weder die Haftpflicht- noch die Teilkaskoversicherung. Das Geld musst du schon selbst aufbrin-gen. Sonst bleibt das Auto stehen.“ Sie geht ohne ein weiteres Wort in die Wohnung zurück.
Thomas ist geschockt. Darauf war er nicht gefasst. Bisher hatte sie, nachdem er ihr mit seiner Bettelei lange genug auf die Nerven gegangen war, immer wieder seine finanziellen Probleme gelöst. Seinen Lohn gibt er bereits Mitte des Monates aus. Gespart hat er nichts. Es war ja so bequem, auf Mutters Kosten zu leben. Dass sie mit ihrem Geld um so mehr knausern musste, das interessierte ihn nicht. Und plötzlich lässt sie ihn allein. Das ist eine ganz neue Erfahrung. Es bedeutet, dass er den Schaden am Auto nicht beseitigen lassen kann; denn wie er zu dem Geld kommen könnte, weiß er nicht. Er weiß ja nicht einmal, wie viel er brauchen wird.
„Die muss mir helfen. Der mache ich die Hölle heiß. Verdammt noch mal!“, schimpft er vor sich hin. Doch er traut sich nicht nach oben. „Wird sie anders reagieren, wenn ich ihr von dem Unfall erzähle?“, überlegt er. „Das bringt nichts. Sie rastet aus. Geht vielleicht sogar zur Polizei“, vermutet er, hat Angst davor. Er entschließt sich, dabei zu bleiben, dass er beim Einparken an der Säule des Carports ange-eckt ist. „Zum Glück steht das Auto so, dass der Schaden nicht gleich auffällt“, sagt er sich. Später am Abend versucht er doch noch, seine Mutter dazu zu bringen, ihm das Geld für die Reparatur zu ge-ben. Doch sie widersteht diesmal all seiner Drängelei. “Ich habe das Geld nicht“, sagt sie energisch und reagiert auf sein Reden nicht mehr. Es hilft nichts, Thomas muss sich damit abfinden.
Tage vergehen, bevor die Leiche zum Begräbnis freigegeben wird. Die Obduktion hat bestätigt, was der Notarzt bereits vermutete. Wenn Kai schnell geholfen worden wäre, würde er noch leben.
Seit er sich einer Sekte angeschlossen hat, lebt Kais Vater nicht mehr bei der Familie, hatte alle Ver-bindungen zu ihr abgebrochen. Als ihn seine Frau jedoch von dem Unglück unterrichtet, da kommt er sofort.
„Wer war es, der meinen Jungen umgebracht hat?“, das ist die erste Frage, die er stellt. „Der kommt nicht ungestraft davon, dafür werden wir sorgen!“ Der Ton, in dem er das sagt, erschreckt Kais Mutter. Seine Augen glühen fanatisch und sein ganzes Gesicht drückt Hass aus. „Er war ein Auserwählter!“
„Die Polizei wird ihn finden. Dann erhält er seine Strafe, da bin ich ganz sicher“, sagt sie schluchzend, will ihn damit beruhigen, doch er richtet sich auf und erklärt drohend: „Der Mörder eines Auserwählten unterliegt nicht dem Urteil weltlicher Richter! Wir folgen den Geboten unseres Propheten. Nur sein Urteil ist für uns gültig!“
Sie bringt nicht die Kraft auf, ihm zu widersprechen. Wegen der Beerdigung gibt es Meinungsver-schiedenheiten zwischen ihnen. Mit einer Einäscherung, wie sie vorschlägt, ist er nicht einverstanden. Belehrend sagt er zu ihr: „Das tätowierte Zeichen der Sekte, am rechten Arm von Kai, darf nicht zer-stört werden. Sonst ist ihm der Übergang in das Reich der Götter verschlossen.“ Er legt die linke Hand auf seinen rechten Arm, wo sich bei ihm das Brandzeichen der Sekte befindet. Diese Geste ist für ihn wie ein Schwur.
Auch Kai interessierte sich anfangs für diese Sekte, hat das tätowierte Zeichen der Auserwählten als erste Stufe der Mitgliedschaft bereits erhalten. Die Taufe jedoch, die ist noch nicht erfolgt. Dafür war er zu jung. Die wäre erst an seinem einundzwanzigsten Geburtstag im Rahmen einer schmerzhaften Prozedur vollzogen worden. Den Getauften wird das Zeichen der Auserwählten unauslöschlich einge-brannt. Danach ist ein Ausstieg aus der Sekte unmöglich. Einige haben es versucht...
Zur Zufriedenheit seiner Mutter hatte Kai, nachdem er mehr über den Propheten der Sekte erfuhr und auf den Widerspruch zwischen Wort und Tat aufmerksam wurde, zu zweifeln begonnen, hatte sich von der Sekte ab- und ihr wieder zugewandt. Er hätte sich nie taufen lassen. Das weiß sie ganz si-cher. Doch nun, da er tot ist, spielt das keine Rolle mehr.
„Willst du ihn in die Verdammnis schicken?“, fragt Kais Vater aufgeregt. „Ihn verbrennen, das lasse ich nicht zu. Du weißt ja gar nicht, was du ihm damit antust“. Er ist laut geworden und spricht zu ihr in dem arroganten Ton, der sie so aufregt: „Du verstehst das nicht. Noch kann er zu einem Gesandten des Erdgottes, ja, in einer anderen Welt selbst zu einem Gott werden. Wir holen ihn in unsere Gemein-schaft zurück, taufen ihn. Wenn sein Körper verbrannt wird, verbrennt das Zeichen, verbrennt seine Seele. Er existiert nicht mehr.“
Sie weiß zwar, dass es sinnlos ist, über dieses Thema mit ihm zu streiten, doch sie entgegnet trotzig: „Ihr mit eueren Phantastereien. Niemand wird zu einem Gott. Ihr sterbt wie wir. Ob begraben oder verbrannt, das ist völlig gleich.“
Zornig blickt er sie an, doch er beherrscht sich, braucht er doch ihre Zustimmung. „Dann können wir ihn auch im Sarg begraben“, sagt er versöhnlich und fügt hinzu: „Wir übernehmen die Kosten für das Begräbnis.“
„Als käme es darauf an“, wertet sie seinen Vorschlag ab, doch der bringt sie schon zum Nachdenken. Sie weiß ja noch gar nicht, wie sie das Geld für das Begräbnis aufbringen soll. Seit sie allein wirtschaf-ten muss, ist es knapp geworden. Die Anzahlung für das Auto hatte ihre Reserven erschöpft. Von seinem Vater hatte sie für Kai, nachdem der sich von der Sekte abgewendet hatte, keine Unterstüt-zung mehr erhalten. Sie stimmt zwar nicht gern zu, doch unter dem finanziellen Zwang erklärt sie nach einiger Zeit des Zögerns ihr Einverständnis mit einer Erdbestattung.
Er ist befriedigt. „Wir nehmen das in die Hände. Du brauchst dich um nichts zu kümmern“, sagt er zum Abschluss und will ihr tröstend über das Haar streichen. Unwillig wehrt sie es ab. Als er auszog, um in der Sekte in neues Leben zu beginnen, hatte er sie mit ihren Sorgen allein gelassen. Das verzeiht sie ihm nicht.
Die Polizei konnte inzwischen an Hand der Bruchstücke des Scheinwerfers und durch die Lackproben feststellen, um welchen Fahrzeugtyp und welches Produktionsjahr es sich bei dem Unfallauto handelt. Die Umfrage in den Werkstätten, ob dort ein roter Opel Kadett mit Schäden am Scheinwerfer und dem rechten vorderen Kotflügel vorgestellt wurde, verläuft ergebnislos. Also wird aufgelistet, wer im Kreis-gebiet einen solchen Wagen fährt. Nur fünfzehn Besitzer kommen in Frage.
Thomas hat zwar inzwischen gehört, dass an dem Freitagabend ein Radfahrer tödlich verunglückt ist und dass der daran beteiligte Autofahrer flüchtete, doch er ist sich immer noch sicher, dass man ihn nicht finden wird. Er ahnt ja nicht, dass es nur noch kurze Zeit dauern kann, bis die Überprüfung der in Frage kommenden Autos die Wahrheit zu Tage fördern wird.
Zwei Polizisten, die damit beauftragt sind, treffen nur seine Mutter an. Als sie sich nach dem roten Kadett erkundigen, ist sie verwundert, fragt, weshalb sie den Wagen sehen möchten, erhält darauf jedoch keine klare Antwort.
„Er steht hinter dem Haus, unter dem Carport“, gibt sie Auskunft. „Thomas ist beim Einparken an der Säule des Carports angeeckt“, erklärt sie ihnen.
„Vorn rechts?“, fragt einer der Polizisten sofort.
Sie nickt bestätigend.
„Wir finden den Weg“, antworten die Beiden und bedanken sich für ihre Auskunft.
Kopfschüttelnd blickt sie ihnen nach, kann sich den Grund dafür, weshalb sie der Opel interessiert, nicht erklären. „Sollte der Hausbesitzer uns angezeigt haben“, grübelt sie. „Dafür gab es doch gar keinen Grund. Die Säule ist kaum beschädigt worden. Ich habe es ihm ja auch gleich am nächsten Tag gemeldet. Er hat sich den Schaden angesehen und nichts dazu gesagt.“ Sie kann sich wirklich nicht erklären, weshalb die Polizei sich für das Auto interessiert.
Die beiden Polizisten untersuchen inzwischen die Schäden am Kadett gewissenhaft. „Der zerstörte Scheinwerfer könnte ein Indiz dafür sein, dass es das gesuchte Unfallauto ist“, bemerkt der Größere. Sie brechen noch ein paar Splitter heraus. “Es müssten sich doch auch gelbe Farbspuren finden las-sen“, sagt der Kleinere, findet aber nichts. Nun untersuchen sie die Säule des Carports. „Der ist dage-gen gefahren, das steht fest“, konstatiert der Größere. „Er hat die Säule aber nur leicht gestreift“, be-merkt der Kleinere, der dabei ist, von den Schadstellen am Kotflügel des Autos Aufnahmen zu ma-chen. „Wenn er mit dem Scheinwerfer dagegen gefahren wäre, dann müsste die Säule viel stärker beschädigt sein. Wir müssten auch Splitter finden, wenigstens ganz kleine Glassplitter. Vielleicht ha-ben sie die Splitter weggefegt “, überlegt er. Am Boden, nahe der Säule, finden sie einige Splitter des roten Autolackes. „Wenn die Lacksplitter noch hier liegen, dann müssten sich doch auch winzige Split-ter des Scheinwerfers nachweisen lassen, merkwürdig...“.
„Etwas anderes wäre es, wenn der Scheinwerfer gar nicht hier zerbrochen wurde.“ Er geht noch ein-mal ins Haus zu Frau Bucher und bittet sie um Besen und Schaufel. Damit fegt er den Schmutz, der sich in der Umgebung der Carportsäule zwischen den Steinen befindet, zusammen und schüttet ihn eine Plasttüte.
Nun ist die Mutter von Thomas aber doch beunruhigt, kommt herunter und fragt die beiden: „Weshalb tun Sie das? Liegt gegen uns eine Anzeige vor? Der Säule ist doch fast nichts passiert.“
„Noch nicht“, gibt ihr einer der beiden Auskunft. „Wir suchen einen roten Kadett, der in einen Unfall verwickelt war - kaum zweihundert Meter von hier entfernt.“
Vor dem: „Noch nicht!“, erschrickt sie. „Soll das bedeuten, dass sie glauben...“ Sie spricht nicht weiter. Der Schreck verschließt ihr den Mund.
„Nun warten Sie erst einmal ab, was die Untersuchungen ergeben“, versucht der Größere sie zu be-ruhigen und auch der Kleinere nickt ihr aufmunternd zu. „Fahren Sie das Auto?“, wird sie gefragt.
„Ich kann überhaupt nicht fahren“, verneint sie. „Mein Sohn fährt das Auto. Er hat erst vor kurzem seine Fahrprüfung abgelegt und den Wagen gleich am ersten Tag gegen den Pfeiler gesetzt. Ich hatte ihm noch gesagt, er soll mit dem Fahren warten bis zum nächsten Tag, aber Sie wissen ja, wie die Jugend ist.“ Erschrocken hält sie inne, als sie das Aufblitzen in den Augen der beiden Polizisten be-merkt.
„Wann war das genau?“, fragt der Kleinere, der der Chef zu sein scheint.
Sie überlegt: „Warten Sie! Es war am Freitag vor acht Tagen. Thomas hatte sich extra frei genommen. An diesem Tag bekam er seinen Führerschein ausgehändigt“, erklärt sie. „Wir sind sofort zu dem Au-tohändler gelaufen und haben das Auto abgeholt. Ich hatte es schon in der vergangenen Woche ge-kauft. Ja, ich bin ganz sicher, es war am Freitag vor acht Tagen.“
Beide Polizisten sehen sich bedeutungsvoll an, nicken sich zu. „Ja, das war’s erst einmal“, sagt der Kleinere zu ihr. Damit verabschieden sie sich.
Als Thomas von der Arbeit nach Hause kommt, stellt ihn seine Mutter zur Rede: „Sage mal Thomas! Stimmt mit dem Auto etwas nicht? Heute waren zwei Polizisten hier, die sich nach allem Möglichen erkundigt, und den Schaden am Auto ganz genau angesehen haben. Sogar den Staub an der Car-portsäule haben sie zusammen gefegt und mitgenommen. Als ich ihnen sagte, dass du die Karambo-lage mit der Säule am vergangenen Freitag hattest, haben sie sich so komisch angesehen.“
Thomas erschrickt. Sein Gesicht verliert alle Farbe. „Quatsch! Nichts ist!“, erwidert er grob. „Ich bin gegen die Säule gefahren, das habe ich dir doch gesagt. Warum die wegen der Schramme an dem Carport so einen Aufstand machen, weiß ich auch nicht.“ Er wendet sich brüsk ab und geht in sein Zimmer, um weiteren Fragen auszuweichen). In seinen Gedanken herrscht Panik. Hastig greift er zur Zigarette, öffnet das Fenster und blickt auf das Auto hinunter.
„Die können mir doch gar nichts nachweisen“, redet er sich ein. „Niemand hat mich gesehen. Die gel-be Farbe habe ich abgerieben.“ Trotzdem fühlt er sich unwohl, sein Bauch ist verkrampft. Am meisten Sorge bereitet ihm, dass er das Geld für die Reparatur nicht zusammenbringt. Sein Kontostand ist wieder fast auf Null angelangt. Ohne Geld kann er den Schaden nicht beseitigen lassen. Seinen Chef um Vorschuss zu bitten, das hatte er sich nicht getraut. Einer seiner Kumpel würde ihm zwar etwas leihen, doch das reicht nicht. Sich seiner Ohnmacht bewusst, haut er unbeherrscht mit der Faust auf den Tisch, wirft die Kippe seiner Zigarette aus dem Fenster, schaltet das Fernsehgerät ein und lässt sich, ohne seine Schuhe auszuziehen, auf die Liege fallen. Alles sinnlose Protesthandlungen, die, da sie niemand sieht, nichts bringen.
Die Untersuchungen der Lacksplitter und des am Carport zusammengefegten Schmutzes haben den Beweiß erbracht, dass der rote Kadett an dem Unfall beteiligt war. Das heraus gebrochene Stück Scheinwerferglas ist mit den an der Unglücksstelle gefundenen Bruchstücken identisch. Auch die ro-ten Lackteilchen stimmen mit denen am Unfallort überein. An einigen wurden sogar winzige gelbe Farbpartikel entdeckt, die dem Lack des Fahrrades entsprechen. Daraufhin erlässt der Staatsanwalt einen Haftbefehl und Thomas wird zur Vernehmung vorgeführt. Sein anfängliches Ableugnen hilft ihm nicht. Die Beweise sind so eindeutig, dass er, durch Fragen in die Enge getrieben, schließlich zugibt, der Unglücksfahrer zu sein. Im Verfahren spricht ihn der Richter schuldig. Die Strafe, die gegen ihn verhängt wird, fällt gnädig aus. Ihm wird zugute gehalten, dass er ein Geständnis abgelegt, Reue zeigt und wahrscheinlich nach dem Unfall unter Schock gestanden hat.
Der Prophet hat sein Urteil gefällt. In einer „Stunde der Andacht“ verkündet er, dass sie, die Auser-wählten, unantastbar sind. Dass alle Mitglieder der Sekte den Gesetzen der Glaubensgemeinschaft unterliegen und nur sie das Recht hat, das Urteil zu sprechen, weltliches Recht für sie keine Gültigkeit besitzt. Und er schließt: „Wer sich an einem Auserwählten vergreift, hat selbst sein Leben verwirkt, denn wir können nur zu Göttern werden, wenn wir diejenigen vernichten, die sich uns in den Weg stellen.“ Obwohl er keinen Namen nennt, wissen alle, wer gemeint ist.
In einer feierlichen Zeremonie nehmen sie die Seele Kais in ihre Mitte auf, verkünden es später an seinem Grab und legen das Zeichen der Sekte auf seinen Sarg. Niemand wagt, sie daran zu hindern.
„Dieser Verbrecher hat sich meinem Jungen in den Weg gestellt“, das geht Kais Vater nicht mehr aus dem Sinn. Es erfüllt ihn mit fanatischem Hass. „Da er das Urteil selbst nicht mehr vollstrecken kann, muss ich es für ihn tun“, nimmt er sich vor. Seit diesem Tag fühlt er sich schuldig. Deutlich spürt er die vorwurfsvollen Blicke der anderen Sektenmitglieder. „Sie erwarten von mir, dass ich für Kai den Weg frei mache. Ich muss den Stein des Anstoßes beseitigt, sonst finde ich keine Ruhe mehr.“
Da Thomas nach der Verbüßung seiner Strafe keine Arbeit finden kann, wer stellt schon einen Vorbe-straften ein, geht er oft hinaus zum Waldteich, um dort zu angeln. Im Schilf verborgen hockt er stun-denlang, grübelt, hadert mit seinem Schicksal.
Als er eines Tages am Abend nicht nach Hause kommt, wird seine Mutter unruhig. Die halbe Nacht wartet sie, dann geht sie zu Bett, lässt aber die Tür zum Schlafzimmer offen stehen. Sie schläft unru-hig, wacht immer wieder auf. Geht dann ins Kinderzimmer, um nachzusehen. Als er auch am Morgen nicht erscheint, meldet sie sein Ausbleiben der Polizei. Die Beamten nehmen ihre Vermisstenmeldung zwar auf, wollen jedoch noch bis zum nächsten Tag warten, bevor sie eine teure Suchaktion einleiten.
„Er hat doch sein Angelzeug mitgenommen“, überlegt seine Mutter. Nachdem Thomas auch am Mittag noch nicht nach Hause gekommen ist, geht sie selbst hinaus zum Waldteich, um nach ihm zu suchen. Ziellos läuft sie am Ufer entlang. Sie kennt ja den Platz nicht, an dem er auf die Fische lauert. Schon will sie aufgeben, als sie einen schmalen Steg entdeckt, der in das Schilf hinein führt. Mit klopfendem Herzen bleibt sie stehen, zögert...
„Ich muss nachsehen!“, sagt sie sich und folgt dem Pfad. Der Boden ist feucht und es schmatzt, wenn sie auftritt. In ihren Trittspuren sammelt sich Wasser. Trotzdem geht sie weiter. Dort, wo das Schilf endet, das Land zum freien Wasser abfällt, hat jemand aus Holzstangen einen Sitz gebaut. Dort steht auch der Behälter, in dem Thomas sein Angelzeug verstaut.
Mit vor Schreck aufgerissenen Augen sucht sie die Umgebung ab. Nichts! Erst leise, dann immer lau-ter, schließlich mit gellender Stimme, ruft sie nach Thomas. Doch er antwortet nicht. Schon will sie, vom Entsetzen gepackt, davonlaufen, da bemerkt sie das im Wasser schwimmende Netz, in dem Thomas die gefangenen Fische eine Zeit lang aufbewahrt. Sie zieht es heraus, zwei Fische zappeln darin.
„Er muss noch hier sein! Warum ist die Angel nicht zu sehen?“ Einige Meter vom Ufer entfernt sieht sie die Pose auf dem Wasser schwimmen. Eine fürchterliche Ahnung beschleicht sie. „Die Angel liegt im Wasser. Er ist hinein gestürzt und kann doch nicht schwimmen.“ Von Angst getrieben hastet sie den Weg zurück.
Jetzt nehmen sie auf dem Revier ihre Beobachtungen ernst. Die Feuerwehr wird alarmiert und es werden Taucher angefordert, die den Grund des Teiches absuchen sollen. Am nächsten Tag finden die den Toten. Er hatte sich in den überall im Teich wuchernden Schlingpflanzen verheddert.
Die eingeleiteten Untersuchungen fördern keinen Verdacht auf ein Verbrechen zu Tage. Thomas ist ertrunken. Es war ein tragischer Unfall. Kais Vater aber, der genießt seitdem wieder die Achtung der Auserwählten.

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Die Lips Tulian SAGA
„Die Lips Tullian SAGA“

Kennst du lieber Leser eigentlich den Tännichtgrund im Tharandter Wald? Und hast du vom Räuberhauptmann Lips Tullian gehört? Nein? Also, dann hast du bisher etwas verpasst! Der Tännichtgrund liegt in Sachsen, am südlichen Rand des Tharandter Waldes, zwi-schen Colmnitz und Naundorf. Er wird von steilen, bewaldeten Hängen begrenzt, vom mäandernden Colmnitzbach durchflossen, dessen Wasser der Bobritsch und mit ihr der Freiberger Mulde zu-eilen.
Nachdem im Jahr 1976 die Kleinbahn, die vom Bahnhof Klingen-berg kommend, über Naundorf, Falkenberg, Niederschöna und O-berschar, bis nach Mohorn ratterte, dampfte und fauchte, eingestellt wurde, herrscht im Tännichtgrund wieder Einsamkeit und Stille. Heute trifft man auf dem am Nordhang verlaufenden alten Bahn-damm, der im Sommer als Radweg, im Winter, wenn die Schnee-höhe es zulässt, als Loipe dient hin und wieder ein paar Natur-freunde - oder ein Liebespaar.
Der Geografische Mittelpunkt Sachsens vor der einstigen Diebes-kammer gelegen, angezeigt durch eine granitene Stehle, lockt den einen oder anderen hinunter zum Talgrund. Dabei erschließt sich von dort wo ein schmaler Weg dem Lauf des Tales folgt erst der eigentliche Reiz des wunderschönen Tales.
Am steilen felsigen Hang wachsen Eichen, Buchen und Birken, ne-ben Haselnuss-, Himbeer- und Brombeersträuchern. Auf den Wie-sen findet derjenige der zu sehen versteht, Süßgräser, Binsen, den Bärenklau, das Springkraut und vieles mehr. Meißen zirpen, der Häher warnt, hoch oben kreist der Bussard und sucht mit seinem Teleblick nach Beute. Wenn man Glück hat begegnet man der Rin-gelnatter und der schillernden Eidechse. Insekten wimmeln, Libel-len schwirren, Bienen fliegen emsig von Blüte zu Blüte.
Anfangs des 18. Jahrhunderts haben Räuber diese Gegend unsicher gemacht. Erst war es Karrasek, der hier mit Komplizen sein Unwe-sen trieb. Später führte Lips Tullian die Schwarze Bande an. Seine wilde Horte, die vor allem Kirchen und reiche Privathäuser aus-raubte, soll ihr Versteck hier im Tännichtgrund gehabt haben.
Woher ich das weiß? Da gibt es ein paar Bücher: „Lips Tullian und seine Raubgenossen“ und „Sachsens böse Kerle“. Sie sind span-nend geschrieben. Doch wie viel davon Dichtung und wie viel Wahrheit ist, das bleibt im Dunkeln. Mehr sagen da schon zwei Bücher aus, die kurz nach der Hinrichtung Lips Tullians an Hand der Gerichtsakten geschrieben wurden: Im Jahr 1715 „Des so ge-nannten Lips Tullians ausführliche Bekänntniß, als auch all seiner bösen Consorten Diebes- und Mord-Geschichten“ und 1716 „Des bekannten Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullians und seiner Complicen Leben und Übeltaten.“
Während meiner Kindheit lebte ich in Colmnitz, hörte von dem Räuber und bin zusammen mit meinen Freunden oft in den Tän-nichtgrund gelaufen. Immer wieder haben wir nach der Höhle ge-sucht, in der sich die Diebeskammer befunden haben soll. Wir glaubten fest daran, dass sich irgendwo Spuren finden lassen müss-ten. Doch all unsere Suchaktionen verliefen ergebnislos.
Und nun fragst du, warum ich das erzähle? Ein merkwürdiges Er-lebnis veranlasst mich dazu. Winke nicht ab, lass mich berichten und bilde dir selbst dein Urteil. Vielleicht regt es auch dich dazu an, einmal diesen geheimnisvollen Ort zu besuchen. Mich hat diese Geschichte nie mehr losgelassen.
Also: An einem 8. März, dem Tag, an dem im Jahre 1815 Lips Tul-lian in Alt-Dresden „Auf dem Sand“, dem Richtplatz vor dem Schwarzen Tor der Neustadt, zusammen mit noch vier seiner Kum-panen enthauptet wurde, sitze ich am offenen Fenster. Das Wetter ist bereits frühlingshaft. Wieder einmal lese ich in meinen Notizen, die ich über das Leben des Lips Tullian zusammengetragen habe. Vieles ist unklar, wenig exakt belegt. Man müsste ihn selbst befra-gen können!
Eine Idee drängt sich mir auf: Ich könnte doch diesen Tag zum An-lass nehmen, die Nacht im Tännichtgrund zu verbringen, dort wo das Versteck der Schwarzen Garde gelegen haben soll. Könnte die Atmosphäre zu erleben die nachts an diesem unheimlichen Ort herrscht? Vielleicht geschieht ja ein Wunder...
Du meinst das wäre riskant? Unsinn! Die Räuberbande gibt es nicht mehr und wer sonst sollte sich nachts diesem unheimlichen Ort nähern. Ein innerer Zwang, vielleicht ist es auch nur Abenteu-erlust, bringt mich dazu dieser Idee zu folgen. Schnell sind die nö-tigen Sachen gepackt und am Nachmittag besteige ich den Zug der mich nach Klingenberg bringen soll. Diesmal wandere ich über die alte Salzstraße, die vor Jahren als Rennstrecke gedient hat, bis ein tödlicher Unfall dem ein Ende setzte. Nach fast einer Stunde habe ich mein Ziel erreicht. Unten im Tal, am Fuß des Felsens, in dem ein dreieckiges Tor angedeutet ist, werde ich übernachten. Doch noch ist es hell und da ich nicht möchte, dass irgendwer mein Vor-haben beobachtet, verberge ich den Rucksack im Gebüsch, nutze die Zeit für einige Fotos.
Die Zeit vergeht. Es wird Abend. Bereits liegt Dämmerung über dem Tal. Die Vögel schweigen. Dunkle Schatten kriechen aus dem Wald. Bald senkt sich die Nacht wie ein schwarzes Tuch in das Tal herab. Ich rolle die Isoliermatte ganz nahe der Felswand aus, lege den Schlafsack darauf, krieche hinein, strecke mich, verharre...
Lieber Leser, hast du schon einmal ganz allein an einen solchen Ort übernachtet? Ich sage dir, da klopft das Herz, die Brust wird eng. Du reißt die Augen auf, auch wenn du schon lange nichts mehr er-kennen kannst. Obwohl ich nicht an Geister und Gespenster glaube, horche ich angestrengt auf jedes Geräusch. Es raschelt und knackt im Unterholz. Wer mag da entlang schleichen? Der Abendwind rauscht in den Wipfeln. Ein Kauz ruft schauerlich. Der Schrei eines Tieres gellt durch die Nacht. Wenn wenigstens die Sterne leuchten würden, doch am Abend haben sich, vom Westen her kommend, Wolken genähert, haben den Himmel verhangen. Nachdem Mitter-nacht bereits vorüber ist, nichts geschieht, lässt die nervliche An-spannung nach; schließlich ich schlafe ein...
Als mich die Morgensonne und das Gezwitscher der Vögel weckt bin ich ganz benommen. In dieser Nacht muss etwas geschehen sein, von dem ich nicht weiß ob es wirklich geschehen ist, oder vielleicht nur ein Alptraum war.
Ich habe den abgeschlagenen Kopf Lips Tullians gesehen. Spukt der hier noch?
Du musst mich nicht darauf hinweisen, dass ich eben noch behaup-tet habe es gäbe weder an Geister noch Gespenster. Aber an so ei-nem Ort, in so einer Nacht, verstehst du? Es war unheimlich!
Wenn es dich interessiert, dann lese weiter. Ich werde erzählen und du kannst dir deine eigenen Gedanken darüber machen:
Es fing damit an, dass plötzlich eine Stelle der Wand über mir zu leuchten begann. Wenig später quoll dort schwefelgelber Nebel heraus, der sich bald blutrot färbte. In dieser wirbelnden Wolke er-schien der abgeschlagene, blutbeschmierte Kopf des Räuberhaupt-manns Lips Tullian. Seine glasigen Augen blickten starr auf mich herab. Mir stockt der Atem. Ich wollte schreien, doch kein Ton kam über meine Lippen. Dann sank sich der rote Nebel auf mich herab, bis der Kopf unmittelbar über mir zu schweben schien. Seine verzerrten Lippen waren wie im Schrei erstarrt. Sie bewegten sich nicht; doch tief in mir erklang das dumpfe Echo einer Stimme:
„Endlich wagt es einer, die Nacht, die auf das Datum meiner Hin-richtung folgt, hier zu verbringen. Jahrhunderte musste ich darauf warten. Solange die Menschen mich verachten, in mir nur den Räuber und Mörder sehen, solange werde ich keine Ruhe finden.“
Bist du ein Geist? Obwohl ich diese Worte nur denke, sie nicht ausspreche, antwortete die Stimme in mir:
„Kein Geist! Ich bin Lips Tullian - muss bis heute in der siebenden Dimension verharren.“
Siebente Dimension? So etwas gibt es doch gar nicht - genau so wenig wie Geister!
Der Kopf pendelte hin und her...
„Ach, was wisst ihr schon davon, ihr heutigen Menschen? Ihr glaubt nicht dass es so etwas gibt, weil ihr es mit euren Sinnen und Geräten nicht erfassen könnt. Aber, ihr glaubt fest an Götter die ihr nie gesehen habt, für deren Existenz es keinerlei Beweise gibt.“
Was willst du von mir?
„Du kannst mir helfen und genau das erwarte ich von dir!“,antwortet die Stimme fordernd.
Was müsste ich tun?
„Mich fragen. Mir zuhören! Ich werde dir von meinem Leben er-zählen. Woher ich kam. Wie es damals war auf der Welt, warum ich zum Räuber werden musste. Und du sollst es dir merken, es auf-schreiben, das viele es lesen können. Sie werden dann ein anderes Bild von mir bekommen.“
Dann könntest du die siebente Dimension verlassen?
„Ja! Ich fände endlich meine Ruhe.“
Das ist eine einmalige Gelegenheit, mehr über diesen Räuber-hauptmann zu erfahren – aus erster Quelle! Sehen wir ihn bisher doch vor allem einen Verbrechers und Unholdes, überlegte ich.
Prompt kommt die Antwort:
„Genau darum geht es! Du wirst mich fragen und ich werde dir antworten, dir erklären, dass es die Lebensumstände waren, die mich zwangen zum Räuber zu werden und dass ich denen etwas genommen habe, die sich vorher an anderen bereichert hatten. Ist das getan, bin ich frei, kann mich in der Ewigkeit verlieren.“
Rasch entschließe ich mich diese Gelegenheit zu nutzen und stelle die erste Frage:
Wo wurdest du eigentlich geboren? Und wie heißt du wirklich? Doch nicht Lips Tullian, wie du dich heute nennst.
„Geboren wurde ich – wahrscheinlich – im Jahr 1672. So genau weiß ich das aber nicht. Getauft bin ich auf den Namen Elias E-rasmus Schönknecht. Im Straßburger Kirchenregister würdest den Eintrag finden; wenn es noch existierte. Meine Erinnerungen be-ginnen im fünften oder sechsten Lebensjahr. Wir lebten in einem Haus in der Nähe von Straßburg, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich. Den Namen Lips Tullian habe ich erst viel später angenommen. Ich kannte eine Familie Tullian, deren Sohn Phillip oder kurz Lips gerufen wurde. Da er verschollen war, konnte ich unter seinen Namen leben.“
Erzählst du mir etwas von deinen Eltern, von deinem Bruder?
„Meine Mutter, eine geborene Armfeldin und eines Amtsmannes Tochter, war eine streng gläubige, geduldige und stille Frau. Sie lebte noch, als ich Straßburg verlassen musste. Mein Vater war Leutnant in der Kaiserlichen Armee. 1683 wurde er bei der Vertei-digung Wiens gegen die Türken schwer verwundet, daran ist er ge-storben. Er war sehr streng und soldatisch. Da ich in der Jugend einen recht wilden und eigensinnigen Charakter hatte, die Schule nicht ernst nahm, viel Unsinn anstellte, hat er mich oft verwünscht und mir schon damals den Weg zum Scharfrichter prophezeit. Mei-nen Bruder habe ich das letzte Mal gesehen, als ich etwa 26 Jahre alt war. Auch er hatte es in der Kaiserlichen Armee bis zum Leut-nant gebracht.“
Und du? Bist auch du Soldat geworden?
„Ja! Auch ich sollte die Tradition fortsetzen. Deshalb kam ich, durch die Vermittlung meines Vaters, bereits mit 10 Jahren zu Ba-ron Georg Eberhard von Heydersdorff, dem ich aufwarten musste. Später ließ er mich zum Fourier-Schützen ausbilden. Alles hätte gut werden können.“
Warum wurde es nicht gut?
„Neidische Intriganten warfen dem Baron vor, er habe die Festung Heidelberg, deren Kommandant er war, feige an den Feind über-geben. Er wurde zum Tode verurteilt. ihm alle Titel aberkannt. Später begnadigt ihn der Kaiser zwar, doch er verbannt ihn außer Landes. Ich verlor dadurch meine Stellung, meine Zukunft.“
Was hast du danach unternommen?
„Ich bin in mein Elternhaus zurückgekehrt. Doch da mein Vater gefallen war herrschte Not im Haus. Um meiner Mutter nicht zur Last zu fallen, habe ich mich vom „Kaiserlich-Daffischen Re-giment“ anwerben lassen. Später diente ich im „Kaiserlich Vaubo-nischen Dragoner-Regiment“ in den Spanischen Niederlanden.“
Als einfacher Rekrut?
Anfangs schon, doch nach einiger Zeit wurde ich zum Wachtmeis-ter ernannt.
Dann gab es doch gar keinen Grund, zum Räuber zu werden.
„Unter den Kameraden war einer der mich ständig provozierte, mich beleidigte. Mit dem habe ich mich geschlagen und ihn so schwer verletzt, dass ich annehmen musste, er würde sterben. Um der drohenden Strafe zu entgehen die mich in so einem Fall erwar-tet hätte, bin ich desertiert.“
Ist dein Gegner wirklich gestorben?
„Das weiß ich nicht, habe es nie erfahren.“
Wohin bist du geflohen?
„In den Niederlanden konnte ich nicht bleiben, auch nicht in Spa-nien. Unter falschen Namen bin ich als Schlossergeselle Philipp Mengenstein’ bis Prag geflohen. Dort traf ich einen Bekannten, der sich „Der kleine Fourier“ nannte. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich ein ehrliches Leben geführt. Er war es, der mich auf den falschen Weg gebracht hat!“
Mit ihm nahm das Unglück seinen Anfang?
„Ja! Da mein Geld zu Ende ging und ich keinen anderen Broter-werb fand, das ganze Land lag nach langen Kriegen am Boden, ließ ich mich von ihm anwerben. Er gab vor Kapitän zu sein, wolle mit mir nach Italien reisen. Doch das war gelogen. Nach Italien konnte er gar nicht, hatte dort einen Obristen erstochen. Er reiste mit seiner Diebes-Kompanie in Mähren umher. Später ist er wegen seiner Missetaten in preußischen Landen enthauptet worden.“
Durch ihn bist du zum Räuber geworden? Warum?
„Was sollt ich tun fremd und ohne Geld? Er machte mich mit jüdi-schen Hehlern, mit Leutnant Wittorffen und einem Mann, der sich nur N.N. nannte, bekannt. Diese Hehler verstanden es meisterlich mich zu verführen. Sie sagten, wenn ich mich bereit erklärte an ih-ren Unternehmungen teilzunehmen, würde ich tausend Taler zu-sätzlich zu meinem Anteil erhalten. Dem konnte ich nicht wieder-stehen. Gab nach und nahm an verschiedenen Kirchenräubereien und Diebstählen in Prag teil.“
Und, hast du die tausend Taler bekommen?
„Nein! Alles war Lug und Trug, sollte mich nur zu den Taten ver-leiten.“
Warum bist du trotzdem bei ihnen geblieben?
„Der Hunger hat mich dazu getrieben. Nach dem dreißigjährigen Krieg verschlechterte sich die Lebenslage auch in Böhmen, dass mir gar keine andere Wahl blieb. Die Armeen waren aufgelöst, ent-lasse Söldner trieben sich, um überleben zu können, raubend und plündernd im Land herum. Hunger und Krankheiten grassierten. Das Handwerk lag danieder, und auch der Handel.“
Was weiter?
„Eine Zeit lang haben wir uns von Einbrüchen in Kirchen und von anderen Räubereien ernährt.“
Erzähle!
„In Prag und Umgebung waren es acht Kirchen, in die wir ein-gebrochen sind und in noch manches Privathaus.“
Was habt ihr mit der Beute gemacht?
„Die Juden nahmen sie uns ab. Doch sie nutzten unsere Lage aus, zahlten immer weniger. Bald blieb uns nicht anderes übrig als wegzugehen. Zusammen mit Wittorffen und N.N. bin ich, erst der Moldau dann der Elbe folgend nach Sachsen gezogen. Als unser Geld zu Ende ging, haben wir in der Oberlausitz zwei Kirchen be-sucht, mitgenommen was uns wertvoll schien.“
Warum hattet ihr es vor allem auf Kirchen abgesehen?
„Bei den armen Leuten war nichts zu holen, denen ging es wie uns. Beute war hingegen beim Adel und in den Kirchen zu finden. Beide pressten das Letzte mit Steuern und Abgaben aus Bauern und Handwerkern heraus. Es war unrecht erworbener Reichtum! Was lag also näher als sich bei ihnen zu bedienen.“
Warum seid ihr 1702 gerade nach Dresden gezogen. Gab es dafür einen Grund?
„Wir hatten vom Krieg gehört, den August der Starke gegen die Schweden führte, wollten uns als Soldaten anwerben lassen. Doch man gab uns keine Chance. Also blieb uns keine andere Wahl als beim Räubergewerbe bleiben, um überleben zu können.“
Hattet ihr Bekannte in Dresden?
„Ich nicht. Doch Wittorffen und N.N. kannten den alten Samuel, einen Zahnarzt, der uns mit Ungern und dessen Knecht Bernhardi bekannt machte. Von denen erhielten wir Hinweise, wo sich eine Gelegenheit bot, etwas zu stehlen. Sie waren es auch, die uns den Hinweis auf die Reichtümer im Gewölbe des Hochgräflich Beich-lingischen Hauses am alten Markt in Dresden gaben. Am 16. No-vember 1702 sind wir nachts in das Gewölbe eingestiegen und ha-ben vieles mitgehen lassen.“
Was habt ihr mitgehen lassen?
„In dem Gewölbe fanden wir einen Kasten mit Schüsseln, Tellern und Leuchtern aus Silber. Manche auch vergoldet. Sogar ein Wein-becher aus purem Gold war darunter. Es war kein schlechter Anfang.“
Das musstet ihr doch noch zu Geld machen!
„Darin lag eine große Gefahr, die letztendlich auch zu meiner ers-ten Verhaftung führte.“
Wie kam es dazu?
„In Halle gab es einen Juden Namens ‚Assor Marxen’, der als Hehler bekannt war. Zu ihm trugen wir die Beute. Nun ergab es sich aber, dass der Jude nicht im Haus war. Nur seine Frau trafen wir an, die ganz gierig wurde, als sie die Schätze sah. Mit ihr konn-ten wir einen sehr günstigen Handel abschließen, der sich aller-dings bald als großes Verlustgeschäft erweisen sollte. Auf dem Rückweg nach Leipzig wendeten wir viel Mühe darauf, uns vor Nachstellungen und dem Zugriff der Justiz zu schützen. So verab-schiedeten wir den Postillion noch vor dem Stadttor, trugen unser Gepäck selbst in die Stadt hinein. Dann ließen wir es durch immer andere Leute in verschiedene Häuser transportieren, um schließ-lich im ‚Schwarzen Kreuz’ am Brühl Quartier zu nehmen.“
Und doch hat man euch gefunden und gefangen genommen?
„Da hatte der Teufel seine Hand im Spiel! Als der Jude nach Hau-se kam und ihm die Frau von dem Geschäft erzählte, merkte er, dass wir sie gewaltig übervorteilt hatten. Wutentbrannt kam er, zu-sammen mit seinem Sohn, nach Leipzig geeilt. Es gelang ihnen tat-sächlich uns im „Schwarzen Kreuz“ aufzuspüren. Herbeigerufene Gerichtsdiener nahmen uns fest und brachten uns ins Rathausver-lies. Es war ein großer Fehler, dass wir uns damals widerstandslos ergaben, hätten wir sie doch ohne große Mühe erledigen können.“
Konnte man euch denn beweisen, dass ihr die Sachen gestohlen hattet?
„Zum Glück nicht! Wir behaupteten stur und steif, dass wir die Koffer mit dem Diebesgut zwei Gaunern abgenommen hätten, die uns verdächtig vorkamen. Die seien geflohen, als wir sie stellten und hätten die Koffer zurück gelassen.“
Haben sie euch das geglaubt?
„Nein! Doch wir sind bei unserer Behauptung geblieben - trotz der Folter!“
Ihr wurdet gefoltert?
„Ja! Diese Hunde! Erst haben sie mir fast die Finger zerquetscht, dann die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und mich an einem Seil bis zur Decke hochgezogen, da hängen lassen. Ich war fast wahnsinnig vor Schmerzen, doch ich wusste, wenn ich ge-stehe, übergeben sie mich dem Henker. Auch N.N. hat diese Tortur überstanden, ohne etwas zu gestehen. So mussten sie die Folter ab-brechen.“
Sie mussten die Folter abbrechen? Wieso?
„Das Gesetz ließ damals nur die 1. Stufe der Folter zu, solange es keine Augenzeugen oder wenigstens das Geständnis eines der An-geklagten gab.“
Ihr seid also frei gekommen?
Wären wir, wenn nicht höheren Ortes Einspruch erhoben worden wäre. Daraufhin schleppten sie uns nach Dresden und sperrten uns in der Salomonisbastion der Festung ein.
Ich kenne die Stelle! Dort befindet sich heute das Rathaus.
„Das Rathaus? Sagt mir nichts, gab es damals nicht. Wir mussten schwerste Arbeit leisten. Nachts wurden wir an die Wand gekettet. Sie wollten uns zermürben.“
Aber du bist doch bald entflohen!
„Ja! Die Wächter glaubten, dass wir zu erschöpft wären, um einen Fluchtversuch zu unternehmen. Doch da hatten sie sich geirrt. Im Winter 1703 zu 1704 gelang es uns nachts über den Festungswall und den zugefrorenen Festungsgraben zu fliehen.“
Toll! Wohin seid ihr gegangen?
„Nach Niederbobritsch, zu Samuel Richter. Bei dem fanden wir geheimen Unterschlupf.“
Und euer Versteck im Tännichtgrund? Warum bist du nicht dahin geflohen?
„Damals war ich noch nicht Mitglied der „Schwarzen Garde“, die dort ihr Versteck hatte. Aber auch später, als ich bereits deren An-führer war, zog es mich nicht an diesen Ort. Der Aufenthalt war mir zu unbequem.“
Die Diebeskammer! Gab es dort wirklich eine Höhle, in der eure Beute aufbewahrt wurde? Eigentlich ist das gar nicht möglich, denn in dem Porphyrfelsen gibt es keine Höhlen. Oder hattet ihr sie selbst in die Felsen getrieben?
„So einen Unsinn erzählt man heute über uns? Es gab keine Höhle, nur ein an den Fels gelehntes Blockhaus aus Baumstämmen zu-sammen gezimmert, eng und feucht. Ich war nur selten dort.“
Man erzählt sich auch lustige Geschichten über euch. Wie war das damals, als ihr nach dem großen Brand in Wurzen in die Domkir-che eingebrochen seid?
„Davon hast du gehört? Ja, da haben wir es den Wachpersonal gegeben. Beim Aufbrechen der Tür zur Sakristei ließ sich Lärm nicht ganz vermeiden. Den hatten auch die Domwächter gehört und kamen neugierig herbei. Wir hatten aber die Tür hinter uns wieder verschlossen, so glaubten sie, es wäre alles in Ordnung und setzten sich unter einem nahebei stehenden Baume nieder. Das war aber gerade gegenüber dem Fenster, durch das ich den Dom mit der Beute verlassen wollte. Zum Glück bemerkten sie nicht, dass ich bereits auf dem Fenstersims saß. Doch was nun tun? Wenn ihr glauben solltet, dass meine Gefolgsleute dumm waren, so wirst du gleich eines besseren belehrt. Zimmermann hatte ich zum Schmiere stehen abkommandiert. Der sah nun mein Dilemma. Torkelnd und rülpsend, einen Betrunkenen markierend, ging er auf die Wächter zu, hockte sich in deren Nähe nieder und verrichtete dort seine Notdurft. Die Wächter murrten, verzogen sich aber vor dem Ge-stank, den Zimmermann verbreitete. Ich entkam mit der Beute. In sicherer Entfernung haben wir uns gegenseitig auf die Schulter gehauen, getanzt und gegrölt bis uns die Luft wegblieb.
Wieso seit ihr eigentlich in die kleine Kirche in Pretschendorf ein-gebrochen?
Wir hatten einen Hinweis erhalten, dass sich in dieser Kirche, in einer eisenbeschlagenen und gut verschlossenen Truhe ein Schatz befände.
Und hat es sich gelohnt?
Es war eine schwere Arbeit, die beiden starken Türen der Sakristei samt ihren Haken aus der Wand zu reißen. Zwar fanden wir die mit Eisenblechen beschlagene und mit sechs Schlössern beschlagene Kiste und haben sie zerschlagen, doch bares Geld haben wir darin nicht gefunden. Nur 5000 Gulden an Schuldscheinen. Damit konnten wir nichts anfangen.
Haben euch die Pretschendorfer nicht vertrieben?
Unsinn! Sie haben uns in der Sonntagnacht gar nicht bemerkt. Die alte Kirche stand, etwas entfernt vom Dorf, inmitten des Friedho-fes. Gegen die „Schwarze Garde“, wie wir inzwischen genannt wurden, hätten die Bauern ja auch gar keine Chance gehabt.
Also war alles umsonst?
Wir haben wenigstens die Ausstattungsstücke mitgenommen.
Seid ihr danach zu eurem Versteck im Tännichtgrund zurück ge-kehrt?
Nein. Die meisten meiner Gefolgsleute arbeiteten doch am Tag in ganz ehrbaren Berufen. Ich hingegen zog es vor, nachdem ich eini-gen Reichtum erworben hatte, in den Städten zu wohnen, wo ich als ehrbarer Bürger geachtet war. Auch in Dresden hatte eich eine Wohnung, in der ich mit meiner Geliebten Marianne lebte. Das gab mir die Gelegenheit auszuspähen, wo etwas zu holen war. Meinen Aufenthalt in Dresden kannten nur Sarberg, Hentschel, Schöneck, Lehmann Schickel und Eckhold. Nur diese Hauptleute durften mich besuchen, wenn es galt, neue Unternehmen zu besprechen.
Wo seid ihr noch eingebrochen?
Ich entsinne mich nicht mehr an alles, nur an die Kirchen in Grot-tau, Meißen, Kosewitz, Kaditz, Strehle, Belgern, Altenburg und Zit-tau. In die sind wir eingebrochen. Auch reiche Privatleute suchten wir heim, so den Pächter des Breittenbachischen Rittergutes. Manchmal mussten wir allerdings auch ohne Beute abziehen. So bei einer Frau an der Mauer in Jena, beim Gemeinderat und einer Kirche in Halberstadt, dem Schloss in Weißenfels, dem Pfarrer zu Glashütte und noch bei einigen anderen.
Hat sich denn das alles gelohnt?
Wir haben zwar ein gefährliches Leben geführt, das uns auch die Qualen und Nöte in den Gefängnissen beschert, und schließlich nach unserer Verhaftung im Jahr 1710 zu Verurteilung zum Tod-geführt hat, aber wir lebten auch eine Zeit lang in Wohlstand.
Wie seit ihr vorgegangen, wenn ihr in ein Privathaus eingedrungen seit?
Meist konnten wir uns durch ein Fenster, das wir zerschlugen, Zu-tritt verschaffen. Erst durchsuchten wir die unteren Räume und brachen danach mit Gewalt die Türen zu den oberen Räumen auf. Rücksicht kannten wir nicht, haben die Leute gebunden und geprü-gelt, bis sie uns verrieten, wo sie ihr Geld verborgen hatten. Aber erschlagen haben wir niemanden.
Was habt ihr eigentlich gestohlen?
Vor allem hatten wir es auf Bargeld abgesehen, doch wir haben auch alles andere was uns als wertvoll erschien mitgehen lassen. In den Kirchen silberne Pokale und Becher, Messtücher. In den Privathäusern Stoffe, Waffen und vieles mehr Insgesamt sollen wir Sachen für mehr als 20.000 Gulden gestohlen haben, wurde mir in den Verhören vorgeworfen.
Wieso hast du das alles zugegeben. Ohne dein Geständnis, oder ei-nen Zeugen mussten sie dich entlassen, wie anfangs in Freiberg. War das nicht mehr so?
„Diese Hunde! Sie hatten sich eine bestialische Tortur ausgedacht. Sie banden mir die Hände auf den Rücken und fesselten mich mit eisernen Ketten am Hals, den Händen und Füßen. Es war furcht-bar. Ich lag im Unrat, im eigenen Kot. Unter den Eisenfesseln hatte sich das Fleisch entzündet, es eiterte. Die Schmerzen wurden schließlich unerträglich.“
Eine solche Folter war doch gar nicht zulässig!
„Es war hinterlistig und bestialisch ausgedacht. Diese Art der Fol-ter war noch nie angewendet worden, war in den Gesetzten nicht erfasst und erforderte deshalb auch keinen Gerichtsbeschluss. Nach sechsundzwanzig Tagen war ich fast wahnsinnig, dem Tod nahe. Ich sah keinen anderen Ausweg mehr, als alles zuzugeben.“
Was geschah danach?
„Sie haben alle festgenommen, die ich genannt hatte – als ich es erfuhr, habe ich mich verflucht. Doch es war zu spät. Das Schöp-pengericht verurteilte mich und die Hauptleute zum Tod durch das Rad. Vom Landesfürsten wurde es in eine Enthauptung umgewan-delt. Ein kurzer und schmerzloser Tod.“
Hast du die Taten eigentlich bereut?
„Ja! Doch es war zu spät. Ich habe als Zeichen der Reue 4 Exemp-lare über die Evangelia und Epistel gekauft und verschenkt. Mei-nen Kameraden gab ich 5 weiße Mützen.“
Wo fand die Hinrichtung statt:
„Am 8. März 1715 gegen 9 Uhr auf dem Platz des Hofgerichtes am Schwarzen Tor. Mit mir starben Der Waldbauer Samuel Schickel, der Studentenfriedrich und der Böttcher Christian Echold. Es war eine große Schau – über 20.000 Menschen kamen um die Hinrich-tung zu verfolgen. Alles ging sehr rasch. Auf dem Schinderkarren brachte man uns zum Richtplatz. Ich legte die Beichte ab, erhielt die Absolution und sprach zu dem Volk, das ich zu einem tugentli-chen Wandel ermahnte. Dann zwang man mich den Kopf vorzu-strecken...“
Kaum sind diese letzten Worte in mir verklungen, verschwindet der Kopf, der Nebel verfliegt – ich erwache. Noch ganz benommen richte ich mich auf, blicke mich um. Alles ist ruhig, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Das schreckliche Bild ist ver-schwunden. Und doch, sobald ich die Augen wieder schließe, mich erinnere, erscheint das Bild von dem Kopf, höre ich diese Stimme in mir. Also doch nicht nur ein Traum. Hastig packe ich meine Sa-chen zusammen und begebe mich auf den Weg nach Hause. Noch heute sinne ich darüber nach, wie das geschehen konnte. Hatte meine Phantasie mir das Erlebnis vorgegaukelt, oder ist doch etwas von dem geschehen, was mir immer noch im Kopf schwirrt. Wie dem auch sei, nun habe ich aufgeschrieben, was mir Lips Tullian erzählt hat und vielleicht findet er dadurch doch noch seine Ruhe...
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Vielleicht möchtest du wissen, auf welchem Weg man zu diesem wunderschönen Grund gelangt?
OK! Dann werde ich dich führen. Am günstigsten reist du mit dem PKW, oder mit Bahn und Fahrrad an. Aber auch der Wanderer, der wie der Radler am Bahnhof Klingenberg aussteigen sollte, erreicht auf Schusters Rappen bald den Tännichtgrund. Ich empfehle über die in Richtung Tharandt liegende Straßenbrücke, zur nördlich der Bahnstrecke verlaufenden Salzstraße wechseln, dieser bis zum Hinweisschild „Lips Tullian Felsen“ zu folgen und von da aus den Tännichtgrund zu erschließen.
Als Auto-Tourist hast du zwei Möglichkeiten: Auf der L194 von Dresden über Freital, Tharandt und Grillenburg nach Naundorf kommend, biegst du dort etwa 100m nach dem Ortseingangsschild und dem rechts liegenden Sportplatz scharf nach links ab und folgst der Straße bis zum alten Bahnhof. Kommst du über die B173 aus Richtung Freiberg oder Dresden, wechselst du in Naundorf, gegen-über dem alten Gasthof, auf die L194 in Richtung Grillenburg. Dort, wo die Straße scharf nach links biegt, fährst du gerade aus, so kommst du ebenfalls zum alten Bahnhof.
Dort angekommen folgst du dem Bahndamm, oder dem parallel zu ihm führenden Weg, und gelangst nach etwa einundeinhalb Kilo-metern zum westlichen Eingang des Grundes. Unterwegs siehst du unten im Tal das Naundorfer Freibad liegen.
Um vom Osten her zum Tännichtgrund zu gelangen, benutzt du am besten die am Ortsausgang von Grillenburg links nach Neu-Klingenberg abzweigende L189 und verlässt diese nach den Plat-tenbauten rechts, in Richtung Colmnitz. Der L190 folgst du ohne abzubiegen bis nach Colmnitz. Etwa 200m nach der Überquerung der Bahnstrecke Dresden – Freiberg erreichst du das alte Gleisbett der Kleinbahn. Rechts liegt der alte Bahnhof. Dort parkst du dein Auto, oder du fährst bis zu dem zum Weidehof gehörenden Park-platz unmittelbar neben dem Bahndamm. Der aus der LPG hervor gegangene „Weidehof“, mit Kräutergarten, Grill- und Spielplatz, links unten im Tal, lädt zu einer Rast ein. Bis zum östlichen Ein-gang des Tännichtgrundes folgst du dem alten Gleisbett und er-reichst nach etwa 500 m den Hangwald.
Folgt man der alten Bahnanlage von einem Ende des Grundes zum anderen, zurück muss man ja auch wieder, so hat man gut seine 13 km zurückgelegt. Leider findet der müde Wanderer unterwegs kei-ne Raststätte. Er sollte also einen gut gepackten Rucksack mit sich führen.

Quellen:
Uwe Danker: Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der frühen Neu-zeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986 ISBN 3-518-28307-3
Heiner Boehnecke, Hans Sarkowicz (Hrsg.): Sachsens böse Kerle. Räuber, Schmuggler, Wilderer. Eichborn, Frankfurt am Main 1993 ISBN 3-8218-1174-9
Roscher Samuel: Des sogenannten Lips Tullians ausführliche Be-känntniß sowohl seiner, als auch aller bösen Consorten Diebes- und Mord-Geschichte, Leipzig, Verlag König, Ausgabe 1715
Frei Ernst: Lips Tullian und seine Raubgenossen, Neusalza, Verlag Oeser, Ausgabe 1854
??? : Des bekannten Diebes, Mörders unbd Räubers Lips Tullians und seiner Complicen Leben und Uebeltaten, Dresden, 1716

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